Wer die »Menschen von morgen« kennenlernen möchte, besucht sie am besten in der Schule. Das hat Carl auf einer kleinen Tour im November auf vielfältige Weise getan. Gelandet ist er dabei auch am kleinen äußeren »Zipfel« der Stadt, besser bekannt als »Tippe«. Hier in Friedrichsdorf steht – bei vielen gar nicht auf dem Radar – die Freie Waldorfschule Gütersloh. Ein Haus voller Kreativität und Handwerkskunst, aber natürlich auch geprägt vom gemeinsamen Lernen von der ersten bis zur 13. Klasse. Die Abschlüsse, die die Schülerinnen und Schüler hier ablegen, sind bis hin zum Zentralabitur die bekannten staatlich anerkannten Schulabschlüsse – allein der Weg dorthin verläuft etwas anders. Ein gutes Beispiel hierfür haben wir in der achten Klasse gefunden. Denn die hat in diesen Wochen einiges vor. Auf der Schulbank sitzen gehört – auf den ersten Blick – nicht dazu.
Es ist halb neun, als wir unseren Fuß in die schmucke Aula der Schule setzen. Der rote Samtvorhang der großen Bühne ist noch geschlossen. Davor im großen Halbkreis die Schülerinnen und Schüler, die sich auf die kommenden Stunden einstimmen. Es wird die erste große Durchlaufprobe ihres Theaterstückes, das sie noch vor Weihnachten zu insgesamt vier Aufführungen bringen werden. Ein Projekt, das fester Bestandteil des Lehrplanes in Klasse acht und zwölf ist. Für mehrere Wochen wird dann der Unterricht komplett gegen ein völlig anderes Lernen getauscht. Prägend ist das für den Einzelnen ebenso, wie für die Gruppe. Es ist eine besondere Art, etwas fürs Leben zu lernen. Und es erscheint im Nachhinein vielen wichtiger als Matheformeln, wenngleich auch diese nach den Weihnachtsferien wieder gepaukt werden.
Auch das Stück, das gespielt wird, hat Lernpotenzial. Den Kinderbuchklassiker »Die Vorstadtkrokodile« von Max von der Grün haben sie sich ausgesucht – und es in Zweiergruppen Satz für Satz in eine Theaterfassung gebracht, die es in keiner geeigneten Form gab.
Die Bausteine wurden ganz Praxisnah am Computer geschrieben und per Mail an Klassenlehrer Frank Winter geschickt, der alles zu einem großen Ganzen zusammengefügt hat. Vom ersten Lesen bis zu den Proben auf der Bühne ist über ein Jahr vergangen – inklusive einer intensiven Beschäftigung mit der Thematik des Buches und natürlich dem Lernen der Texte für die einzelnen Rollen, die verkörpert werden.
Die Geschichte um die Ruhrpott-Kinderbande mit ihren waghalsigen Aufnahmeprüfungen und den an den Rollstuhl angewiesenen Kurt, der schließlich Teil der Gruppe wird, hat seit ihrer Veröffentlichung im Jahr 1976 nicht an Aktualität verloren. Vielmehr liefert sie im Rahmen des aktuell vieldiskutierten inklusiven Gedankens eine Anregung zum Nachdenken und Diskutieren – auch bei den Schülerinnen und Schülern.
Der Blick in die intensive Probenarbeit lässt schon beim Besuch den Schluss zu, dass Theater spielen durchaus eine willkommene Alternative zum Frontalunterricht ist. Das bestätigen die Schülerinnen und Schüler auf Nachfrage gerne – und stellen sich für die nächste Szene auf. Die Szenen werden gespielt, gemeinsam ausführlich besprochen und durchaus selbstkritisch evaluiert. Erste Requisiten sind dabei, die Kostüme und das Bühnenbild werden erst später an einem Wochenende gemeinsam mit Eltern und Lehrern in viel Eigenleistung hergestellt.
Bis zu den Aufführungen wird dann alles fertig sein und der schon jetzt spürbare Respekt davor noch einmal deutlich gesteigert. Aber eines ist sicher: Spätestens mit dem letzten Applaus sind die Achtklässler um eine große Lebenserfahrung reicher!
Foto und Text: Ben Hensdiek