Tafel inside

Folge 2

 

Der Unterschied zwischen Kühlung und Frostung  klingt für ungeübte Ohren wie eine Lappalie. Die Wahrheit sind aber 25 bis 26 Grad Dif ferenz, die oftmals den Unterschied zwischen Lebensmittel-Tod und Lebensmittel-Leben ausmachen. Ein paar Grad zuviel, und ein Eisberg-Salat verwandelt sich in einen Berg aus Eis, ein paar Grad zu wenig und das grüne Nahrungsmittel wird ungenießbar, wandert statt in die Mägen der rund 3800 versorgten Bedürftigen, in die Schredder des Kompostwerkes.

 

Bei der Gütersloher Tafel, mit einem Jahresumfang von 1400 Tonnen der nachweislich größte Sammler, Kom- missionierer und Verteiler von gut erhaltenen, nicht mehr handelsfähigen Lebensmitteln im Kreis Gütersloh, gibt es deshalb exakt definierte Regeln gemäß der Lebens- mittelverordnung. Exakt 1000 Quadratmeter Lagerfläche stehen in den zentralen Kühlräumen an der Kaiserstraße 38a für die diversen Aufgaben zur Verfügung. So luxuriös und generös wie die Zahl impliziert, sind die Gegeben-heiten jedoch mitnichten. »Unsere Lagerkapazitäten sind begrenzt«, beschreibt der stellvertretende Lagerchef Niels Böttner (54) das für Außenstehende nicht leicht zu durchschauende Sammelsurium aus Joghurt-Paletten, Butterbergen, Kästen, vorgelagerten Kühlräumen, Frost-zellen sowie des separaten Regallagers. In letzterem stapelt sich auf 700 Quadratmetern alles, was nicht gekühlt werden muss, wie Süßigkeiten, Babynahrung, WC-Papier oder Haferflocken. Wie beim Eichhörnchen-Prinzip wird gesammelt und eingelagert, um für schlechte Zeiten und mögliche saisonalbedingte Schwankungen im Spendenaufkommen gerüstet zu sein. Warum dies so wichtig ist, zeigt sich später. Mit Blick auf die einge-lagerten Waren stellt Niels Böttner sachlich fest: »Wenn dieser Raum leer, ist, gibt es die Tafel nicht mehr. Dann können wir zumachen.«

Leidtragende wären in diesem Fall die aus Rentnern, Geringverdienern, Alleinerziehenden, Asylbewerbern, Sozialhilfeempfängern, oder andere Personen in einkommensschwachen Situationen bestehende Tafel-Klientel, die ohne die für den symbolischen Beitrag von 1,50 € pro Woche erworbenen Güter am sprichwörtlichen Hungertuch nagen würden.

Das eigentliche Herz der stillen Heldinnen und Helden von der Kaiserstraße schlägt dabei in der samt Kühl- und Frosträumen gut 300 Quadratmeter großen Sortier- und Verteilhalle. An einem ganz normalen Dienstag - einen Tag vor der Mittwoch-Auslieferung – haben sich morgens um 8 Uhr bereits 12 bis 15 Personen zum Sichten, Sortieren, Ordnen und Vorkommissionieren (Vorpacken für die 52 Verteilstellen) eingefunden. Die Arbeiten laufen ruhig und routinert. Während am Brottisch zwölf Hände die in der Frostung schock-gefrorenen Brötchen in einzelne Tüten für die Verteilung am nächsten Tag stecken, sichten die Gemüsefrauen das von den Fahrern eingesammelte, in Kisten herangekarrte Frischegut. Mit flinken Fingern wuseln sich Bianca Knipper und Valentina Lanert durch die auf Rollcontainern herangeschobenen Berge von Tomaten, Gurken und Orangen. Das Sichtungsprinzip erinnert ans Aschenputtel-Märchen: Die Guten ins Töpfchen, die Schlechten in die Tonne. »Wenn Obst und Gemüse einen Tag vor der Verteilung schon wässrig sind, kann man sie niemandem mehr anbieten«, meint Bianca Knipper.

Meistens ist der Ausschussanteil ziemlich hoch. Laut Schätzung von Niels Böttner landen nur 60 Prozent des eingesammelten Obst und Gemüses auch wirklich bei den Bedachten. 40 Prozent werden zum Fall für’s Kompostwerk. Niels Böttner: »Wenn die Sachen gut wären, würden wir sie nicht bekommen. Im Sommer kann das Verhältnis noch mehr kippen«. Ähnlich strikt wie beim Gemüse sind die Vorgaben auch für die in den Frost-kammern gelagerten Tiefkühlprodukte wie Fleisch, Pizza oder Würstchen. Schwarz auf Weiß zeigen an der Wand angebrachte DIN-A-4-Blätter unmissverständlich die maximale Überschreitungsdauer der Mindesthaltbarkeitsdaten (MHD) an: Molkereiprodukte, Feinkost- und Wurstwaren 3 – 5 Tage, Getränke und Säfte bis zu 14 Tage. Bei Fisch und Meeresfrüchten gibt es gar keinen Spielraum. Obwohl beim Aussortieren von manch wehmütigem Blick begleitet, werden diese Grenzen in Sinne der übernommenen Verantwortung penibelst eingehalten.

Die eigentlich Verteilung läuft nach einem von der Verwaltung vorgegebenen Schlüssel. Kommissionierungsmeister Karsten Büttner (65) sowie sein Frühschicht-Kollege Rainer Krüger (68) müssen dabei dreimal pro Woche an den Verteilungstagen Montag, Mittwoch, Freitag das Puzzle »Was ist da, was muss weg?« lösen. In der Theorie oft leichter gesagt als getan. Ein Blick auf die aktuellen Zahlen des Jahres 2015 verrät: Die monatlichen Schwankungen können bis zu 50 000 Kilogramm betragen. Rekordsammelwert waren im Juni 121 591 Kilogramm, am wenigsten gespendet wurde im Juli mit 68 633 Kilogramm. Niels Böttner klärt auf: »Vor den Ferien fahren die Firmen ihre Produktionen herunter. Da bleibt auch für uns weniger übrig.« Um für den Fall der Fälle gerüstet zu sein, hüten Tafel-Geschäftsführer Hans-Jürgen Trendelkamp und seine Mitstreiter die ihnen anvertrauten Lebensmittelspenden darum wie einen Schatz. Allerdings nur so lange, bis sie im Zeichen der Humanität, der Menschlichkeit und des Mitgefühles an die Ärmsten der Armen verteilt werden. Bei der Lagerung sind die notwendigen Temperaturen dabei mehr als eine Lappalie, streng genommen spielen sie sogar die entscheidende Rolle.


Kontakt unter: 
Gütersloher Tafel  ⋅ Telefon: 05241-39010
Mail: info@gueterslohertafel.de
Web: www.gueterslohertafel.de


 

Text und Fotos: Jens Dünholter