Es gibt Träume, die scheinen so unerreichbar, dass man sie allein für sich träumt, vielleicht auch einmal ausspricht – und sie am Ende als kleine Träumerei sehnsüchtig fallen lässt. Die Gütersloherin Ulrike Reichow allerdings hat für sich einen anderen Schlüssel gefunden, die kühnsten Gedanken tatsächlich in die Realität umzusetzen: Sie plant und macht es einfach! Im Rahmen von Freiwilligendiensten im Ausland hat die 58-jährige bereits einiges erlebt. Als sie uns in der Redaktion besucht, kommt sie gerade aus einem Elefantenschutzprojekt in Nepal zurück. Ihren wirklich größten Traum aber hat sie sich bereits im vergangenen Jahr erfüllt, als sie in einer regnerischen Nacht hunderte Schildkröten auf ihrem Weg vom Strandnest in die weiten Wellen des Ozeans vor Costa Rica beobachten konnte. Ganz »nebenbei« hat sie gemeinsam mit weiteren Helfern aus aller Welt ebenso vielen wohl das Leben gerettet. In Summe waren es zwei Wochen harte Arbeit, oft in Tag- und Nachtschichten – an einem wahrlich paradiesischen Ort.

Gebucht hat Ulrike Reichow den Aufenthalt in Costa Rica über die Agentur »first hand«, die vor Ort Freiwilligendienste in unterschiedlichsten Bereichen organisiert. Die Hilfe für die vom Aussterben bedrohte Meeresschildkröte nimmt dabei eine zentrale Rolle ein. So ist es auch kein Wunder, dass die Gütersloherin mit ihrem Wunsch, einmal das »große Schlüpfen« der Schildkröten hautnah zu erleben, schnell auf die Organisation mit Ansprechpartnern in Deutschland gestoßen ist.

Das Camp selber – eines von insgesamt fünf unterstützen Camps an Pazifik und Karibik – erreicht sie nach einem langen Flug, sieben Stunden Busfahrt und Taxitransfer schließlich mit einem kleinen Schlauchboot. Der geschützt gelegene und touristenfreie Strand in der Nähe der Ortschaft Samara bietet ein traumhaftes Umfeld für die wichtige Arbeit der Volunteers. Und die besteht vor allem darin, die großen Gelege der Riesen-Wasserschildkröten im Sand vor Raub zu schützen. Die Feinde: Wilderer auf der Suche nach dem schnellen (sehr kleinen) Geld durch den Verkauf der Eier auf der einen Seite, Waschbären und Wildvögel auf der anderen Seite.

Untergebracht in einer spärlichen Stelzenhütte ohne fließendes warmes Wasser und mit nur einer Stunde Zugang zum Strom pro Tag gilt es also, den menschlichen und tierischen Dieben zuvorzukommen.

 

Das gelingt vor allem in der Hauptablagezeit von September bis November nur mit einer 24-Stunden-Überwachung der Strandabschnitte und der künstlich angelegten Nester im umzäunten Bereich, wo die Eier während der Brutphase im Sand sicher untergebracht werden. Für die Volunteers ist das in der Saison eine echte körperliche Herausforderung. Bis zu sechs Mal pro Nacht geht es an den Strand, wo die Riesenschildkröten ihre Eier ablegen. Und auch am Tag stehen zahlreiche Aufgaben von der Versorgung des Camps bis hin zur körperlich sehr anstrengenden Nestpflege, für die Tag für Tag unzählige Eimer Sand bewegt werden müssen.

Unglaubliche 60 bis 120 golfballgroße Eier pro Gelege legen die Tiere innerhalb weniger Minuten in die selbst geschaufelten Sandnester, bevor sie die Brut ganz ungeschützt dem natürlichen Gang überlassen. Im besten Falle greifen die Helfer schon dann ein, denn kurze Zeit später kann es bereits zu spät sein.

Vorsichtig werden die Eier wieder ausgegraben und zum Camp gebracht. Dort warten vorbereitete, dem natürlichen Bau nachempfundene Nester, die ebenfalls Tag und Nacht unter Bewachung stehen. Während des »Umzugs« werden die Eier mit Fundort, Datum und Anzahl katalogisiert, um die wissenschaftliche Begleitung des Projektes zu unterstützen.

Die Umsiedlung auf sicheres Terrain bringt auch gleich die nächste Aufgabe mit sich: Alle 15 Minuten werden die Nester auf geschlüpfte Schildkröten kontrolliert. Denn geht es erst einmal los im Nest, muss es wieder schnell gehen, da die Tiere zur ursprünglichen Ablagestelle gebracht werden müssen. Das passiert unter größter Vorsicht in kleinen, sandgefüllten Wannen. Einmal auf den Strand gesetzt nehmen die kleinen Wellenreiter sofort Kurs auf das Meer – wie mit einem eingebauten Kompass immer in genau die richtige Richtung. Für Ulrike Reichow ist genau das der Moment, der am tiefsten in der Erinnerung bleibt. Denn Fakt ist: Viele der kleinen Schildkröten, die sie in den zwei Wochen an den Strand bringen durfte, hätten ohne den Einsatz der Freiwilligen nicht überlebt.

So hat der vage Traum von der Begegnung mit den gefährdeten Riesenschildkröten ein sehr nachhaltiges Ende genommen – und ist zu hundert Prozent in Erfüllung gegangen.

Text: Ben Hensdiek
Fotos: Ulrike Reichow