Es hätte der große Wurf werden sollen und Gütersloh wäre ein Platz in den Mathematikbüchern der Welt sicher gewesen. Und doch hat es nicht so ganz geklappt mit der Apparatur, die der Gütersloher Lehrer Wilhelm Wlecke am 05.03.1919 zum Patent angemeldet hat. Woran es gelegen hat? Vielleicht an der eigenwilligen Optik der zwanzig metallenen »Finger« in weiß und rot, die eher das Bild vom Struwelpeter assoziieren, als Freude am Lernen einfacher Matheaufgaben. Aber auch der wirkliche Nutzen erschließt sich auch nach längerer Betrachtung nicht so recht. Wir sind der Geschichte einer »echt Gütersloherischen« Erfindung nachgegangen.

Heute muss man die »Fingerrechenmaschine« mit der Reichspatent-Nummer »D. R. P. No. 331979« im Museum suchen. Das allerdings zeigt auf, dass Lehrer Wlecke für die damalige Zeit durchaus weite Strecken auf sich genommen hat. So sind wir auf Berichte des Radevormwalder Heimatmuseums gestoßen, das die Rechenmaschine in einem kleinen Schulraum präsentiert wird und damit immer wieder erstaunte Blicke erlebt. Distanz zu Gütersloh: Immerhin rund 135 Kilometer.

Die Landesstelle für Museumsbetreuung Baden Württemberg hat Wleckes Fingerrechenmaschine im August 2015 als »Objekt des Monats« vorgestellt, gefunden im »Schulmuseum im Klösterle« in Schwäbisch Gmünd. Das dortige Klassenzimmer ist eingerichtet wie die frühere »Klösterleschule« um 1930 und nimmt die Besucher mit Griffelkasten und Schiefertafel für die Dauer einer Schulstunde mit in die Vergangenheit.

Eine große Sammlung von Lehr- und Lernmitteln dokumentiert den Schulalltag der Weimarer Republik bis in die Zeit des Wirtschaftswunders. Ob die Fingerrechenmaschine auch im damaligen Unterricht zum Einsatz kam, ist uns nicht bekannt. Distanz zu Gütersloh: Gute 480 Kilometer.

Es ging aber noch weiter: In der Zeitschrift »Schweizer Schule« wird von einem Demonstrationsvortrag berichtet, den Wlecke in der Schweizer Gemeinde Stans gehalten hat (Seite 352 in Heft 44, erschienen 1931) – stolze 725 Kilometer von seiner Heimatstadt entfernt. Der Bericht im Bereich der »Schulnachrichten« liest sich durchaus vielversprechend:

»Nidwalden. Lehrer, Lehrschwestern (letztere in etlichfacher Überzahl) und eine schöne Anzahl Schulfreunde in geistlichem Gewände versammelten sich am 7. Oktober in Stans zur Herbstkonferenz, deren Hauptgegenstand der Demonstrationsvortrag von Herrn Lehrer Wilh. Wlecke, aus Gütersloh in Deutschland, war. Der Referent sprach über von ihm erfundene, neue Anschauungsmittel zum abstrakten Rechnen auf den untern Stufen der Volksschule.«

Wie auch Wlecke gingen die beteiligten Schweizer davon aus, dass andere Anschauungsmittel wie Zählrahmen oder Stäbchen deutliche Mängel aufweisen und »bei schwachbegabten Kindern das Fortschreiten hemmen«. 

 

Diese Erkenntnis förderte die Überzeugung – andersgehend als beim Gros der damals aktiven Pädagogen – »dass der vom Schöpfer gegebene Apparat, nämlich die zehn Finger, noch immer das beste Hilfsmittel sei, wegen der übersichtlichen Gruppierung, weil es jedem Kinde stets zur Verfügung steht, und nicht zuletzt, weil vorab das schwache Kind auch später immer wieder zu diesem, ihm vertrauten Mittel Zuflucht nehmen kann«.

Lehrer Wlecke selbst arbeitete nach dem Grundsatz, dass »nichts im Verstande ist, das nicht zuvor in den Sinnen war«. So beschreibt er es in seinem pädagogischen Konzept »Die Finger als Fundament des ganzen Zahlenbaus«, das 1929 im Grundschulverlag in Gütersloh i. W. veröffentlich wurde. Darin beschreibt er auch in einem Satz den Gedanken, der ihn zur Erfindung seiner Apparatur getrieben haben muss: »Je deutlicher die Anschauung, desto sicherer und anhaltender arbeitet das Gedächtnis.«

Für Wlecke war sein durchaus originell gedachtes Anschauungsmittel der »einzige Weg, rechenschwachen Kindern die Grundlagen der Arithmetik beibringen zu können«, wie es Prof. Erhard Anthes von der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg in einer Erläuterung zur Fingerrechenmaschine ausdrückt.

Die Maschine sollte also Zahlen und Rechenoperationen veranschaulichen, damit die Kinder lernten, beim Rechnen ihre Finger richtig einzusetzen. Der Lehrer konnte die beweglichen Finger von der Rückseite aus bedienen, so dass jeder Rechenvorgang zu einer kleinen Theateraufführung mutierte. Für alle Kinder vorne gut sichtbar die Schaufläche mit den zehn weißen Fingern, die er als »Handschuhfinger« bezeichnet, sowie die darunterliegende Reihe als »Finger in Fleischfarbe«. Vorteil: Nicht der Zahlenraum bis zehn, sondern bis zwanzig war das Anliegen der Vermittlung – mit dem Ziel, die Grundlagen für das Rechnen im Zahlenraum bis tausend und weit darüber hinaus zu legen.

Das war ihm ein besonderes Anliegen, beschreibt er selbst seine Zielgruppe wenig charmant auch als »entsetzliche Bremsklötze für die Klasse, wenn sie sich nicht selbst sofort helfen können«.

Von den Konferenzteilnehmern in der Schweiz erhält er dafür ungeteilten Beifall: »Summa summarum: Wleckes Rechenmaschine ist ein neuer Beweis, wie fortschrittlich die Schule von heute eingestellt ist, wie man sich keine Mühe scheut, alle Kinder zu fördern, aber auch wie raffiniert oft gearbeitet werden muss, wenn es überall >tagen< soll.«

Vielleicht war es im Fall von Wleckes Fingerrechenmaschine etwas zu raffiniert gedacht, denn durchsetzen konnte er sein Konzept bekanntlich nicht. Es bedarf schon einiger Stunden, um das Konzept dahinter zu verstehen und dann entsprechend lehrreich zu vermitteln. So ist es nicht ganz verwunderlich, dass die Produktion laut nicht bestätigter Quellen um das Jahr 1930 eingestellt wurde.

Wer sich das Objekt gerne einmal ansehen möchte, hat natürlich auch im Gütersloher Stadtmuseum die Gelegenheit dazu. Hier ist die Apparatur in mehrfacher Ausführung gemeinsam mit zahlreichen originalen Schriften im alten »Klassenzimmer« zu finden.

Fotos: Sven Grochholski
Text: Ben Hensdiek