Wenn man heute das Geschäft in der Mönchstraße 20 in Wiedenbrück betritt, braucht es nur einen Augenblick und einen Atemzug, um sich in einer anderen Zeit wiederzufinden. An der Wand prangt ein alter „MIELE“-Schriftzug, die kleine Sitzecke unter dem Elvis-Porträt besticht durch gut erhaltene Polstermöbel, die dem Retro-Fan ein Lächeln ins Gesicht zaubern.

Es riecht nach Lack und dezent nach altem Öl, vielleicht nach Garage oder Werkstatt, auf jeden Fall vertraut und etwas »nostalgisch«. Und dann sind da die Fahrräder: eng aneinander gereiht im ganzen Raum, im Schaufenster, an den Wänden – einfach überall. Fast alle von ihnen brauchen einen neuen Schlif f, ein feinfühliges und liebevolles Händchen. Einen echten Kenner eben, der sie zurück ins Leben holt. Und genau den finden sie in Ingo Berhorst, der mit seiner Werkstatt »Living Classics« weit über die Stadtmauern hinaus für Aufsehen sorgt. Und das im wahrsten Sinne des Wortes »ganz nebenbei«.

Der 42-jährige Möbelschreiner und Restau-rator ist ein echtes Wiedenbrücker Kind. In der Langen Straße in und zwischen Fachwerk-häusern aufgewachsen, liebt er es, alte Dinge zu erhalten. Möbel natürlich, Antiquitäten – aber vor allem Fahrräder. Die sind in über-schaubaren Projekten fertigzustellen und bringen schnelle Erfolgserlebnisse mit sich. Das ist durchaus wichtig, denn für Ingo Berhorst ist die Restauration der Räder vor allem ein – wenn auch zeitintensiv und professionell aus-geführtes – Hobby neben dem Hauptjob als Einrichtungsberater.

Vor sechs Jahren erst ist er nach mehreren Jahren in Spanien in die alte Heimat zurück-gekehrt. Seitdem beschäftigt sich der detail-verliebte Handwerker wieder vermehrt mit der Fahrrad-Restauration, die ihn schon seit der Kindheit begleitet. Er kauft und verkauft deutschlandweit Räder aus meist westfälischer Produktion und kommt so mit immer mehr interessierten Kunden in Kontakt. Mit seiner Arbeit trifft er den Nerv von Generationen, die den Wert alter Produkte aus unterschiedlichen Beweggründen neu für sich entdecken. Oft geht es um den Erhalt von Erbstücken oder Liebhaberobjekten, manchmal auch um die Wiederherstellung von Originalzuständen. Und schnell spricht sich die hohe Qualität der Restaurationsarbeit herum.

Vor eineinhalb Jahren dann wächst Ingo Berhorst die Masse an alten Rädern mehr oder weniger »über den Kopf«. Jeder Wohnraum wird zum Abstellplatz umfunktioniert, jede freie Fläche für Werkstattarbeiten genutzt. Da fällt die Entscheidung für das große Ladenlokal direkt neben dem Kloster Wieden-brück nicht mehr schwer.

 

Hier ist das perfekte Umfeld für Lager, Ausstellung und Restaurationsarbeit in einem. Und das zieht trotz beruflich bedingter kurzer Öffnungszeiten regelmäßig Kunden aus ganz Deutschland an. Die nehmen aufgrund des großen Zuspruchs durchaus in Kauf, drei bis sechs Monate auf eine Restauration zu warten. Im Gegenzug bekommen die Kunden ein sehr detail- und technikverliebt instandgesetztes Rad, bei dem nach Möglichkeit jedes Teil originalgetreu, funktionstüchtig und frisch aufgearbeitet am richtigen Platz ist. »Sonst kann man es auch lassen«, weiß Berhorst um seinen Hang zur Perfektion.

Die zeigt sich auch in der Gestaltung der Räume, die nach heutigen Maßstäben einen »modernen Vintage-Charakter« aufweisen, aber durchaus auch eine originale Fahrradwerkstatt aus den 50er Jahren sein könnten. Dafür sorgt auch die lange Verkaufstheke, die in den Auslagen mit viel Originalzubehör für begeisterte Blicke sorgt. Erstanden hat Berhorst das Stück sowie weitere Schränke und Regale von einem Westerwälder Fahrradgeschäft, das um 1947 gegründet und bis zur Geschäftsaufgabe nur wenig modernisiert wurde. Ein wahrer Glücksgriff.

So wie auch ein besonderes Lieblingsstück von Ingo Berhorst: ein Original »Cowi«-Rad der Manufaktur Carl Ottens. Das Rad wurde um 1933 nicht weit entfernt vom Geschäft beim Fahrradhaus Ottens in der Langen Straße in Wiedenbrück gefertigt. Älter ist im aktuellen Bestand nur das Hochrad aus dem Jahr 1883, das ein Schaufenster ziert.

Die größte Anzahl historischer Räder stammt hier aber aus dem Hause MIELE. Sie zählen durch den Markenwert des Gütersloher Unternehmens heute weltweit zu beliebten Sammlerobjekten und sind noch immer in unzähligen Kellern und Schuppen der Region und weit darüber hinaus zu finden. Sie in großem Maße zu erhalten ist eine lohnenswerte Aufgabe und auch ein Stück Heimatpflege, die dem ambitionierten Restaurateur am Herzen liegt. »In den frühen Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts hatte nahezu jedes Dorf eine eigene Fahrradschmiede«, weiß Berhorst. MIELE hingegen schaffte es, den Massenmarkt zu bedienen und lieferte zwischen 1916 und 1960 rund zwei Millionen Fahrräder aus. Nicht zuletzt aufgrund ihrer guten Qualität sind entsprechend viele Räder auch heute erhalten und warten auf eine liebevolle Aufarbeitung.Vom Erfolg des Restaurations-Geschäftes ist Ingo Berhorst sehr überrascht. Erst im Oktober hat er in seinem Hauptjob ein paar Stunden reduziert, um den vielen Aufträgen gerecht zu werden. Aber er genießt es, den Kunden mit seiner Arbeit immer wieder eine sehr große Freude zu bereiten. Dennoch bleibt es eine Leidenschaft und ein Hobby, das er bis ins Kleinste ausfüllt. Und genau das schätzen die Menschen an »Living Classics«.

Fotos: Karl-Ewald Kirschner
Text: Ben Hensdiek