Wenn man eine Geschichte als »Straßenfund« bezeichnen kann, dann wohl diese: Es ist der 5. Januar 2017 und im Gütersloher Brauhaus läuft gerade die erste GTownMusic Acoustic Session des Jahres. Bereits seit über zwei Jahren unterstützt Carl die Veranstaltung, die durch ihre besondere Mischung aus Konzert, of fener Bühne und Musikertref f ein fester Anlaufpunkt für das Publikum geworden ist. Wie an jedem ersten Donnerstag im Monat trafen auch im Januar zahlreiche Musiker aus der ganzen Region aufeinander – bunt gemischt vom Schüler über erfahrene Hobbymusiker bis hin zu echten Profis. Unsere Aufmerksamkeit allerdings wurde schnell auf ein einziges Instrument gelenkt: Eine wunderbare alte Violine mit einer nahezu unglaublichen Geschichte.
Rund zwei Monate zuvor, am 23. November 2016, stand das antike, gebeizte Instrument noch musikalisch schrottreif aber dekorativ im Wohnzimmer von Ingrid und Peter Kranicz. Ein Kellerfund des Nachbarn, der für den Müll zu schade, für mehr als Dekoration aber nicht geeignet schien. Weder spielbar noch erkennbar restaurierbar, durchzogen von Rissen und fehlenden Elementen – kurzum: eine totale Katastrophe.
Das allerdings sollte sich nach einer Chorprobe, die aus Platzgründen spontan in das Wohnzimmer der beiden Spexarder verlegt wurde, ändern. Durch den Zufall begünstigt entdeckte der kolumbianische Musiker und Multiinstrumentalist, Produzent, Künstler und in diesem Falle auch Chorleiter Alexander Cuesta Moreno das »Stück Holz« in Form einer Geige. Was dann passierte hat uns stellvertretend Diana Paola Pulido Rodriguez verraten, Violinistin und eine gute Freundin von Alexander. Ihre Worte haben wir frei aus dem Englischen übersetzt, um die unglaubliche Verwandlung nachvollziehen zu können.
»Während die Probe lief, wurde Alexanders Aufmerksamkeit immer wieder auf die Geige gelenkt, die wie verlassen oder vergessen in einer Ecke des Wohnzimmers stand. Dieses Stück Holz, auf dem in diesem Augenblick niemand ein anständiges Konzert oder auch nur ein Stück Musik hätte spielen können und von dem niemand glaubte, dass es noch eine Zukunft haben könnte«. Und doch äußerte Alexander Cuesta Moreno den Wunsch, das Instrument mitzunehmen und die Herausforderung anzunehmen – was unzählige Arbeitsstunden und viel Geduld erforderte. Die Restauration alter Streichinstrumente ist ihm dabei nicht neu, sondern ein in früheren Jahren vielfach erprobter Prozess. »Er verbrachte Tage und Nächte mit der Violine, beseitigte die Schäden und suchte das bestmögliche Zubehör, um das Instrument wieder lebendig zu machen.« Fast zwei Monate hat das gedauert.
Und ohne im Vorfeld zu wissen, ob die Violine überhaupt am Ende spielbar sein wird. Umso bewegender der Moment, in dem Diana zum ersten Mal die Seiten streichen konnte. Erstes Fazit: Operation gelungen, der Patient lebt! Sowohl Diana, also auch Alexander sind vom weichen Klang der Violine begeistert – und das präsentieren sie uns stolz auf der Bühne der Acoustic Session. Von der düsteren Vergangenheit hört man dort nichts mehr, ganz im Gegenteil sorgen Diana, Alexander und das »Stück Holz« für stehende Ovationen nach ihrem Vortrag.
So war die zufällige Begegnung 23. November für alle Seiten eine echte Bereicherung – und wer glaubt schon an Zufälle?
Fotos: Alexander Cuesta Moreno
Text: Ben Hensdiek