Manche Geschichten liegen auf dem Speicher vergraben. Manche sind längst vergessen oder gut behütet vor der großen Öf fentlichkeit verborgen. Manche stehen in Museen oder auf alten, moosigen Gedenktafeln. Uns führt es heute in einen Keller nahe der Innenstadt. Wir wollen das Gütersloh um 1900 erleben und im Video einfangen, einen Rundflug durch eine fast vergessene Stadt-Schönheit machen und für die Nachwelt in bewegten Bildern festhalten. Ein sicherlich ambitionierter Plan, der mit Geduld und Ruhe zum Ergebnis führt. Stolze zwanzig Jahre Vorarbeit hat uns zum Glück jemand abgenommen. 

Wir sind zu Besuch bei Norbert Jebramcik.

Bei unserem ersten Besuch vor Ort bekommen wir einen Einblick in die Kirchstraße. Oder mehr das, was die Kirchstraße im Jahr 1900 war. Eine schmucke Aneinanderreihung beeindruckender Häuser. Nur wenige von ihnen stehen heute noch, aber sie bieten Orientierungspunkte zum heutigen Straßenbild. Wir sind fasziniert von einer Welt im Format 1:87, dem Maßstab, in dem Norbert Jebramcik die Stadt Straße für Straße in liebevoller Kleinstarbeit und nach intensiver Recherche wieder aufgebaut hat. So manche Abbruch-Sünde vergangener Jahrzehnte wurde hier im Kleinen rückgängig gemacht.

Was wir auch sehen, sind weitere Platten, die über uns an der Kellerdecke schweben. Aus Platzgründen, wie uns schnell klar wird. Es fehlt an einem Ausstellungsraum. Und das nächste Projekt, die Kökerstraße, liegt zu diesem Zeitpunkt noch sorgfältig in Kisten verpackt auf der Arbeitsfläche. Bis zu unserem nächsten Besuch wird auch dieser Straßenzug Gestalt annehmen.

Als Kind schon hat Norbert Jebramcik als Hobby-Modellbahner angefangen, Häuser für die Landschaften aus Pappe zu bauen. 

Die üblichen Plastikhäuser wirkten ihm zu künstlich. Die Texturen wie Mauern und Dächer gab es damals noch vom Spielzeughersteller Faller im Fachgeschäft zu kaufen, so waren die Gebäude gut darstellbar. Mit der Zeit wurde die Bautechnik verfeinert und es entstanden mehr und mehr Häuser.

Den Ausschlag, dem Hobby intensiver nachzugehen, gab ein Urlaub in Rothenburg. »Die Fachwerkhäuser dort haben mich sehr inspiriert und für das Thema sensibilisiert«, erinnert sich der Modellbauer. So entstand die Idee, den alten Gütersloher Kirchplatz nachzubauen. Passend zur Modelleisenbahn im Maßstab 1:87 versteht sich. Ausgestellt wurden die Gebäude erstmals im Rahmen einer Ausstellung zu den Hobbys der Mitarbeiter eines Gütersloher Unternehmens – verbunden mit vielen Anfragen, ob das nicht ein Thema für das hiesige Stadtmuseum wäre.

Dort wurde das Modell des Kirchplatzes dann auch anlässlich des Jubiläums »175 Jahre Stadtrechte Gütersloh« ausgestellt. Im Jahr 1998 wird die erste Dauerausstellung im Turm der ebenfalls nachgebauten Apostelkirche eröffnet, wo die Häuser auch heute stehen und den Platzbedarf im Keller etwas entspannen.

Angespornt vom Interesse der Öffentlichkeit, ging es in den folgenden Jahren kontinuierlich weiter. Über Kontakte zu Heinrich Lakämper-Lührs und Stadtarchivar Stephan Grimm konnte ein fundiertes Wissen über die damaligen Gebäude und deren Umgebung aufgebaut werden. »Die Recherche zum damaligen Zustand der Straßenzüge nimmt in etwa 50 Prozent der Arbeit ein«, berichtet Jebramcik. Das bedeutet alte Fotos zu suchen und auszuwerten, sich ein möglichst genaues und naturgetreues Bild von Häusern und Details zu machen und maßstabsgetreu nachzubilden. Doch das stellt sich oft gar nicht so einfach dar. Oftmals behilflich ist hier neben Stadtarchivar Grimm auch der Leiter des Stadtmuseums, Dr. Rolf Westheider.

»Teilweise müssen die Standorte einzelner Gebäudeteile wie Gartenhäuser oder Anbauten über Luftbilder aus der Nachkriegszeit bestimmt werden. Bilder von solchen Details sind meist eher zufällig zum Beispiel über Familienbilder im Garten zu finden, bei denen im Hintergrund entsprechende Dinge erscheinen«. Auch 1900 hat man sein Haus vorwiegend von der Straßenseite fotografiert, wenn überhaupt. Weitere Anhaltspunkte bietet ein Stadtplan aus dem Jahr 1893.

Im Anschluss an den alten Kirchplatz entstand die Blessenstätte, die in dieser Form heute nahezu verschwunden ist, aber zahlreiche interessante Bauwerke zu bieten hatte. Ebenso wie die Kirchstraße, die wir ja bereits ansehen durften. »Hier gab es durch die vielen Fabrikbesitzer, die hier wohnten, sehr imposante Gebäude zu entdecken«, erinnert sich Jebramcik an seine Recherche. Außergewöhnlich für eine kleine Stadt wie Gütersloh.

Zum 150. Bestehen der Martin-Luther-Kirche entstand auch diese im Keller von Norbert Jebramcik inklusive ihrem Umfeld um das Jahr 1900. Das Modell ist das zweite, das im Rahmen einer zweiten Dauerausstellung in der Kirche untergebracht und für jeden zu bewundern ist. Allein die Martin-Luther-Kirche brauchte rund dreihundert Stunden für die Fertigstellung. 

Bei unserem zweiten Besuch vor Ort wird uns das Ausmaß der »Bauarbeiten« inklusive der Gestaltung der Umgebung mit Gärten und Straßen samt Figuren und Fuhrwerken deutlich. Ein kompletter Straßenzug benötigt drei bis vier Jahre Recherche- und Bauzeit. Letztere findet zum Großteil im Winter statt, im Sommer stehen dann andere Hobbys im Vordergrund. Auf der Grundlage von Fotos werden die Texturen heute am eigenen Computer zu Hause erstellt, da sie im Handel nicht mehr erhältlich sind. Vorteil ist, dass so Steine und Dächer noch näher am Original gestaltet werden können. Auch die Fenster werden nach Foto-Vorlagen mit der Hand auf Folien gemalt. Rund 37 Jahre Arbeit als Mediengestalter helfen dabei, die korrekte Darstellung zu schaffen.

Und die ist auch im Detail beeindruckend, wie wir in den Nahaufnahmen unserer Flüge durch die Modell-Landschaften sehen. Eine Darstellung, die einen Teil der Stadt Gütersloh rund 115 Jahre nach dem damaligen Stand nochmals aufleben lässt. So entstehen einmalige Einblicke, die es bislang nicht gab. Die Kökerstraße, die beim ersten Besuch noch in Kartons verpackt war, steht nun Maßstabsgetreu auf einer großen Holzplatte. Die Straßenbeläge sind bereits gelegt, Bürgersteige und erste Figuren angebracht. Im Vergleich zu den anderen Modellen ist noch einige Arbeit im Umfeld zu tun – aber es wird. Auch unser Redaktionsgebäude in der Kökerstraße 5, Baujahr 1896, finden wir wieder. Fast so, wie es heute noch steht. Für Norbert Jebramcik die seltene Möglichkeit, eines seiner Miniatur-Häuser einmal von innen zu betrachten. Mauerwerk und Fenster sind weitestgehend im Original erhalten und bieten reichlich Anschauungsmaterial für kleine Verfeinerungen im Modell.

Auch die nächsten Jahre sind modellbautechnisch schon gesichert: »Als nächstes werde ich mir die Münsterstraße mit ihren zahlreichen Brennereien vornehmen«, steht das Vorgehen fest. Das schließt dann den Innenstadt-Kreis. Gütersloh um das Jahr 1900 ist dank Norbert Jebramcik ein Stück Stadtgeschichte zum Staunen und Anfassen. Wir freuen uns auf den Tag, an dem sich alle Modelle an einem Ort zu einem großen Ganzen zusammenfinden werden.

 

Text: Ben Hensdiek · Video: Matthias Kirchhoff · Fotos: Norbert Jebramcik