Wenn es die Schreiberei zulässt, genießt Carl so viel Zeit im Freien, wie es nur geht. Im Optimalfall lässt sich beides verbinden und so hat es ihn an einem ersten frühlingshaften Vormittag Ende Februar einmal mehr aufs Land gezogen. Das Ziel? Die Heidschnuckenschäferei in unmittelbarer Nähe des Truppenübungsplatzes Senne, wo wenige Tage zuvor die ersten Lämmer zur Welt gekommen sind. Ein guter Grund für einen Besuch bei Schäfermeisterin Renate Regier, die hier vor 27 Jahren eine neue Heimat gefunden hat und ein weit über die Region hinaus beachtetes Projekt leitet.

Die Heidschnuckenschäferei der Biologischen Station Paderborn-Senne liegt am Rande des Naturschutzgebietes in der Sennestraße 233. Wir treffen die diplomierte Biologin im Stall bei der Fütterung von rund 100 Schnucken, einigen Ziegen und den ersten Lämmern. Ein eher seltener Anblick, da die Tiere meist ganzjährig und artgerecht in der freien Natur der Senne gehütet werden. Dort arbeiten sie sozusagen als »vierbeinige Landschaftspfleger«. Denn die Heidschnucken sind eine höchst genügsame Schafrasse, die die geschützten Heideflächen erhalten, indem sie das Heidekraut und den Magerrasen durch Verbiss kurz halten und die frischen Kiefern- und Birkensämlinge fressen.

Insgesamt gehören rund 600 Mutterschafe, acht Böcke und etwa 20 Ziegen zum Stamm der Herde. Nur während der Lammzeit, etwa von Ende Februar bis Anfang April, verbringen die Mutterschafe mit ihren neu geborenen Lämmern eine kurze Zeit im Stall. Aufgrund der besonderen Haltungsform kommen alle Lämmer im zeitigen Frühjahr zur Welt. Dafür sorgen die herbstlichen »Flitterwochen«, in denen die Böcke gemeinsam mit der Herde gehütet werden. Und so erwartet die Schäfermeisterin in den kommenden Wochen die Geburt von etwa 500 Lämmern. Die ersten rund 100 Heidschnucken sind bereits im Stall und warten zeitnah auf ihren Nachwuchs.

Geburtshilfe muss die Schäfermeisterin zwar nicht leisten, aber um eine bessere Bindung aufzubauen, kommen Mütter und Lämmer die ersten Tage in eine sogenannte »Lammbox«. Danach geht es in den »Kindergarten« - ein größeres Gehege mit mehreren Muttertieren und ihren Lämmern. Das fördert vor allem die spätere Eingliederung in die Herde. Bei der Geburt haben die kleinen Lämmchen ein tiefschwarzes Fell. Später wird es lang, dicht und silber- bis dunkelgrau. An Kopf und Beinen dagegen bleibt es kurz und schwarz.

Die Heidschnucken werden bei ihrer »Landschaftspflege« von etwa 20 Ziegen unterstützt. Im Gegensatz zu den Schafen richten sie sich gern an jungen Bäumen auf und ziehen die Zweige herunter, um sie zu fressen. Auf diese Weise ergänzen sich beide Arten erfolgreich im Sinne des Naturschutzes. Darüber hinaus werden besonders zahme Ziegen als Packtiere ausgebildet. Sie tragen auf den langen Wanderungen Proviant, Getränke oder auch mal eine Regenjacke für den Schäfer. Und so wundert es nicht, dass wir in den »Lammboxen« mehrere Ziegenmütter mit ihren kleinen Ziegenlämmern entdecken. Die Muttertiere warten gerade ungeduldig auf ihr Bio-Heu und das Bio-Getreide, denn die Heidschnuckenschäferei ist auch ein zertifizierter Bioland-Betrieb.

 

Nach der Fütterung nimmt uns Renate Regier mit in die Senne zu Schäfermeister Max Laabs und der restlichen Heidschnuckenherde. Nicht in den öffentlichen, naturgeschützten Teil. Nein, wir fahren im Auto der Schäfermeisterin auf den streng bewachten Truppenübungsplatz, der seit Ende des zweiten Weltkriegs unter britischem Kommando steht. Hier herrscht eine »friedliche Koexistenz« zwischen dem Militär und der Schäferei. Durch den militärischen Übungsbetrieb, der übrigens schon seit mehr als 125 Jahren besteht, ist eines der größten Heidegebiete Nordrhein-Westfalens erhalten geblieben. In den 1980er Jahren einigten sich die britischen Platzherren mit den Mitgliedern der »Arbeitsgruppe Landschaftspflege und Artenschutz e.V.« darauf, den offenen Charakter der Landschaft mit schonenden Mitteln - und nicht wie bisher durch unkalkulierbare Heidebrände - zu erhalten. Seit dieser Zeit nehmen Heidschnucken und Ziegen den erfolgreichen Wettlauf gegen Birken und Kiefern auf und sorgen so für den Erhalt einer historisch gewachsenen Kulturlandschaft.

Wir treffen Schäfermeister Max Laabs, der mit rund 500 Schafen, einigen Ziegen und einem »echten Schäferhund« über den Truppenübungsplatz zieht. Aus Sicherheitsgründen natürlich in täglicher Absprache mit dem Militär. Seit zwölf Jahren unterstützt er Renate Regier in der Heidschnuckenschäferei. Den Beruf des Schäfers hat er vor mehr als 30 Jahren erlernt und übt ihn bis heute mit Leidenschaft aus. Nach verschiedenen Stationen in Nord- und Süddeutschland hat Max Laabs - genau wie die Schäfermeisterin Renate Regier - hier in der wunderschönen Sennelandschaft Ostwestfalens eine echte Heimat gefunden.

Die Heidschnuckenherde ist heute groß genug, um das Areal auf dem Truppenübungsplatz und dem angrenzenden Naturschutzgebiet zu »pflegen«. Daher werden die Hammellämmer mit einem Gewicht von 38 bis 40 Kilogramm weiterverkauft oder das Fleisch und die Wurst der Heidschnucken direkt hier am Hof vermarktet. Neben den Fellen sind Schnuckenfleisch, Salami und die herzhaften »Heideknacker«, aber auch Ziegenmettwurst die wichtigsten Einnahmequellen der Schäferei. Durch die ständige Bewegung der Tiere ist ihr Fleisch besonders dunkel, fettarm und sehr delikat, der wildbretartige Geschmack ist rasse- und futterbedingt.

In den vergangenen Jahren hat sich die Heidschnuckenschäferei Senne, nicht zuletzt aufgrund des langjährigen Engagements von Renate Regier, zu einem bedeutenden Publikumsmagneten entwickelt. Besonders im März und April, wenn hier hunderte von kleinen Lämmern herumspringen, kommen zahlreiche Besuchergruppen, Privatpersonen und Schulklassen aus der ganzen Region auf den Hof. Genauso beliebt ist inzwischen das »Heideblütenfest«, das hier traditionell einmal jährlich im Sommer gefeiert wird. Und vielleicht nutzt Carl auch diese Chance zur Flucht – vom geliebten Schreibtisch raus in die Natur.

Fotos: Sven Grochholski
Text: Petra Heitmann