Carl zu Besuch bei Michael Schulze
Es sind die besonderen, fast zufällig entdeckten Geschichten, die unser beliebtes Format »zu Besuch« ausmachen. Und so stehen wir eines Vormittags in einer kleinen Schuhmacher-Werkstatt am Rande der Gütersloher Innenstadt. Geschätzte zwölf Quadratmeter, gefüllt mit unzähligen Paar Schuhen, Taschen und Gürteln, die hier überall in Regalen, auf dem Boden und der Theke auf eine Reparatur oder auf ihre Besitzer warten. Mittendrin Schuhmachermeister Michael Schulze. Als wir uns Anfang August mit ihm zum Interview verabreden wollen, um dem traditionsreichen, selten gewordenen Schuhmacher-Handwerk auf den Grund zu gehen, antwortet er spontan: »Kommt einfach nächsten Dienstag vorbei.«
Nur wenige Tage später betreten wir den kleinen Laden und tref fen Michael Schulze mitten bei der Arbeit vor: Absätze erneuern, Reißverschluss reparieren, einen Schlüssel anfertigen, eine Gravur annehmen und zwischendurch ein paar fertige Schuhe herausgeben. Ganz schön viel los hier. Und wie in fast jedem Handwerksbetrieb sind wir von (Spezial-) Maschinen und Werkzeugen umgeben. Nach einer herzlichen Begrüßung, die hier traditionell »per du« ausfällt, erzählt uns der Schumacher dann mehr von seinem Beruf und - dass ihn die Liebe nach Gütersloh verschlagen hat.
Tatsächlich macht sich der gebürtige Dortmunder im Jahr 1992 in Gütersloh selbstständig. Genau hier in der Berliner Straße, wo wir schnell den Eindruck bekommen, dass die Zeit einfach stehengeblieben ist. Sein Fachwissen jedenfalls ist es nicht. Denn der Meister seines Faches lässt sich seitdem mit nichts in Verlegenheit bringen, was mit Leder, Leinen oder anderen Materialien zu tun hat, die er für sein Handwerk braucht. Egal, ob Pumps oder Sandalen, Wander- oder Laufschuhe, Sneaker oder Stiefel - ebenso Taschen und Rucksäcke werden hier fachgerecht repariert. Der Schumacher versucht so viel wie möglich zu erhalten und nur das auszutauschen, was wirklich kaputt ist. »Warum soll man etwas Neues kaufen, wenn es mit vertretbarem Aufwand repariert werden kann«, erklärt er uns.
Wie abwechslungsreich die Tätigkeit in der kleinen Meisterwerkstatt ist, davon können wir uns an diesem Vormittag persönlich überzeugen. Vor dem Tresen selbst finden wir kaum Platz zum Stehen. Also ziehen wir uns auf die schmale Treppe zurück, die zu einem weiteren Werkstatt-Raum in einem Zwischengeschoss führt und beobachten das rege Treiben. Mit sicheren Handgrif fen nimmt er Schuhe aus den Regalen und reicht sie den Kunden. Das genaue System dahinter haben wir nicht verstanden, wohl aber die Präzision, mit der er sein Handwerk ausführt oder von einer Maschine zur nächsten wechselt und zwischendurch immer wieder Zeit für ein paar freundliche Worte findet.
So erfahren wir ganz beiläufig, dass der Wahl-Gütersloher nicht nur das Schumacher-Handwerk beherrscht. Eine erste Ausbildung schloss Michael Schulze nämlich zum Konditor in Dortmund ab. Von 1979 bis 1982 folgten dort eine Lehre zum Schuhmacher und schließlich die Meisterschule in München. Doch bevor er sich endgültig für seine heutige Profession entschied, absolvierte der Handwerksmeister noch einen Abstecher in Pforzheim, um das Goldschmiede-Handwerk zu erlernen. Ein echter Allrounder also.
Die vielfältigen Fähigkeiten kommen Michael Schulze in seiner Schumacher-Werkstatt sehr zugute. Denn neben dem Meisterbetrieb hat er vor vielen Jahren einen Schlüsseldienst und einen Gravur-Service eingeführt - an Aufträgen mangelt es ihm also nicht. Bis heute fertigt er sogar fünf bis zehn Paar Lederschuhe pro Jahr in reiner Handarbeit an – schließlich hat er das nötige Handwerkswissen von der Pike auf gelernt. Und das wissen die Kunden zu schätzen. Als Schuhmacher gehört er jedoch eher einer aussterbenden Zunft an. Denn Nachwuchs ist kaum in Sicht.
Bleibt noch die Frage nach der großen Liebe? Die hält bis heute nun schon seit 34 Jahren. Die beiden gemeinsamen Söhne sind inzwischen erwachsen. Bei unserem Besuch hat uns Michael Schulze viele private und interessante berufliche Einblicke gewährt. Wir bedanken uns für das Vertrauen. Und wenn wir mal wieder einen echten »Meister« brauchen, wissen wir ja jetzt wo wir ihn finden. · peh