In seiner kurzen Karriere hat Carl schon so manchen Künstler getrofffen. Als wir uns auf den Besuch bei Dr. Wilfried Koch vorbereiten, wird schnell klar, dass wir es hier nicht nur mit einer bekannten Persönlichkeit zu tun haben, sondern mit einem – wie man es heute nennt – Multitalent. Und so machen wir uns auf den Weg ins benachbarte Rietberg, genauer gesagt in den idyllisch gelegenen Ortsteil Varensell. Hier lebt der Porträtmaler, Grafiker, Kunsthistoriker, Autor und Musiker seit mehr als 40 Jahren gemeinsam mit seiner Frau Hilde. Wir freuen uns besonders auf ein Gespräch mit dem Bildhauer Dr. Wilfried Koch, dem die Stadt Rietberg für sein künstlerisches und literarisches Werk ein eigenes Museum und einen gleichnamigen Skulpturenpark in der Innenstadt gewidmet hat.

Als wir pünktlich um 15.30 Uhr in seinem Haus ankommen, sind wir beeindruckt von der modernen Architektur und den hellen offenen Räumen. Ein Resultat, auf das der heute 88-Jährige bei der Planung, 1969 der Zeit voraus, maßgeblich Einfluss genommen hat und das viel über sein Leben und Werk verrät. Allerdings dauert es eine Weile bis uns der Künstler, nach anfänglicher Skepsis, Einblicke in sein erfülltes Leben gewährt. Doch dann dürfen wir uns ganz nebenbei von einem seiner weiteren Talente überzeugen: Der Hausherr ist nämlich ein brillanter Erzähler – alles andere hätte uns auch gewundert.

Die Weichen für sein künstlerisches Werk wurden bereits früh gestellt. Nicht zuletzt prägte ihm seine Mutter Franziska »Zissi« Koch schon als Kind ein, dass seine »Talente nur geliehen sind und sie mit Zinseszins zurückgegeben werden müssen«. Aus heutiger Sicht hat der Künstler seine »Schulden« schon vielfach beglichen. Mit gerade mal 17 Jahren begann Wilfried Koch eine Ausbildung als Porträtmaler bei Rudolf Porth in Frankfurt. Es folgten Studien an der Kunsthochschule Stuttgart, wo er sich der freien Malerei und zu-gleich an der Fachhochschule der Grafik widmete. Ebenfalls in Stuttgart absolvierte er anschließend ein Studium der Kunstgeschichte bei Professor Alois Gustav Barthel. Das Ergebnis all dieser Studien fasste der Kunsthistoriker 1967 in der »Kleine(n) Stilkunde der Baukunst« zusammen. Einem breiten internationalen Publikum aber wurde er 1982 durch die »Baustilkunde – Das Standardwerk zur europäischen Baukunst von der Antike bis zur Gegenwart« bekannt. Konkurrenzlos für Architekten, Kunsthistoriker und Studenten – kurz »Der Koch« genannt – ist das Buch auch für Laien verständlich. Insgesamt sind beide Werke bis heute in 77 deutschen Auflagen, mehr als einer Millionen Exemplaren und in 21 Übersetzungen, darunter in russisch, chinesisch und japanisch, erschienen. Allein 2800 Architekturzeichnungen auf 528 Seiten hat der Autor darin akribisch detailgetreu mit einer Tuschefeder persönlich angefertigt. Bei all unserer Begeisterung aber sind wir hauptsächlich wegen seiner kaum weniger bekannten Bronzeskulpturen nach Rietberg gekommen.

 

Denn 1982 entdeckte Dr. Wilfried Koch zeitgleich seine Leidenschaft für die Bildhauerei. Seither gestaltet er Skulpturen von Menschen in ihren emotionalen und existentiellen Grenzsituationen. Häufig behandelt er dabei Themen der Musik, der Mythologie oder der christlichen Ikonographie und verwandelt sie zu eigenen phantasie- und gedankenreichen Bildfindungen.

Zu seinen charakteristischen Ausdrucksmitteln gehören menschliche Körper als offene Schalen – Auge und Phantasie des Betrachters sollen das Fehlende ergänzen. Auffällig dabei ist, dass jede Schale mit dem Wechsel der Themen auch eine veränderte Bedeutung bekommt: Unterstreicht sie beim »Flötenspieler« etwa die schwebende, tänzerische Leichtigkeit seines Musizierens, so wird sie beim »Klagenden« zum Bild für die Ausgeleertheit eines Menschen am Ende seiner Leidensfähigkeit. Armen und Beinen seiner Menschenbilder verleiht der Bildhauer ausdrucksstarke, auch fast »unnatürliche« Körperbewegungen. Doch bei alledem bleibt den »Körpern« eine maßvolle Abstraktion erhalten. Ihre starke Ausdruckskraft bekommen die Skulpturen vor allem durch ihre individuelle Mimik und Gestik, also durch Gesicht, Hände und Füße. Sie sind das Ergebnis der großen mitmenschlichen Erfahrung, die der Porträtist Dr. Wilfried Koch aus mehr als tausend eigenen Bildnissen gewonnen hat.

Rund 100 Gemälde, etwa 700 Zeichnungen sowie seinen literarischen und wissenschaftlichen Nachlass hat der Künstler in seiner »Stiftung Dr. Wilfried und Hilde Koch« der Rietberger Sparkassen-Stiftung als Zustiftung überlassen. Im Gegenzug macht die Stadt seine Arbeiten im »Skulpturenpark Wilfried Koch« und im »Kunsthaus Rietberg – Museum Wilfried Koch« dauerhaft der Öffentlichkeit zugänglich. Acht seiner bemerkenswerten Bronzefiguren haben wir im Museumsgarten bewundern dürfen, elf weitere im Park. »... ich wünsche mir nichts mehr, als dass jeder, der meine Menschbilder sieht, sich so angesprochen spürt, dass er auch sich und seine eigenen Erfahrungen, seine Freuden, seine Wünsche und wohl auch seine Nöte in ihnen wiederfindet«, sagt der Bildhauer selbst über seine Bronzen, und genau so haben wir es auch empfunden.

Besonders erwähnenswert erscheint uns der Umstand, dass der Künstler jedes einzelne der von ihm betriebenen Metiers zu erstaunlicher Vollendung vorangetrieben hat. So spielte er zudem zahlreiche Konzerte im In- und Ausland sowie in mehreren Rundfunkanstalten. Er selbst nennt diese Fülle dankbar und bescheiden »Begnadung und Reichtum eines langen Lebens«. Der 88-Jährige ist eben ein wahres Multitalent - einer der wenigen universell begabten Menschen in unserer heute sehr spezialisierten Gesellschaft. Sein ungeheures Wissen ist so faszinierend, dass wir uns nur schweren Herzens erst am frühen Abend verabschieden. Danke – wir sind nachhaltig beeindruckt.

Fotos: Sven Grochholski
Text: Petra Heitmann