Wir schreiben das Jahr 1978. In der Provinz Papua in West-Neuguinea werden die ersten systematischen Kontaktversuche zweier niederländischer Missionare zum Naturvolk der »Korowai« verzeichnet. Ein spannendes Unterfangen, lebten die Ureinwohner des bis heute größten zusammenhängenden Urwalds der Erde bis dahin in völliger Isolation zur »Außenwelt« in einer materiellen Kultur, die noch in der Steinzeit verwurzelt ist. Für weltweites Aufsehen hat die Entdeckung der Stämme vor gerade einmal knapp 40 Jahren aber vor allem durch eine ganz besondere Lebensweise gesorgt: Die Korowai leben traditionell in bis zu 50 Meter hoch gelegenen Baumhäusern, die sich vielfach in den Gipfelregionen der Urwaldriesen befinden. Das weckt Carls Interesse und bespielt eine Vielzahl von Kindheitsträumen. Aber wie fühlt sich das eigentlich an, so weit oben in nach wie vor sehr dünn besiedeltem Territorium? Zählt man die Menschen zusammen, die sich im Jahr 2016 aus der westlichen Welt auf den Weg gemacht haben, um die Korowai zu besuchen, kommt man auf genau 18 Personen. Einer von ihnen ist Alex Schumacher, der im Jahr des Erstkontaktes in Paderborn geboren wurde, in OWL aufwuchs und bereits vor Jahren zum ersten Mal mit Carl in Kontakt gekommen ist. Vor genau einem Jahr war er für einen Monat in West-Neuguinea, hat sich allen Gefahren zum Trotz aufgemacht, die Korowai in ihrem natürlichen Umfeld zu treffen und zu erleben, wie es sich ein Leben weit entfernt der Zivilisation anfühlt. Mitgebracht hat er Fotos und zahlreiche Geschichten. Einige davon möchten wir an dieser Stelle erzählen

Wir treffen uns mit Alex in der Redaktion und verfallen schon nach wenigen Sätzen ins Erzählen, Informieren und Staunen. Vor allem die Frage nach dem »Warum« treibt uns an. Worin liegt die Motivation zu dieser unkalkulierbaren Reise und was macht den Reiz aus, sich derart weit von gewohnten Komfortzonen zu entfernen? Die Antwort setzt sich aus persönlichem Interesse und einer Portion Zivilisationsüberdruss zusammen, aus Neugierde und dem Bewusstsein, dass zumindest die Bewohner mit Kontakt nach außen nur noch kurze Zeit in ihrem traditionellen Umfeld leben werden – anders als ein Großteil der Korowai, der bis heute völlig unberührt in schwer zugänglichem Siedlungsgebiet wohnt.

Rund zwei Jahre Vorbereitungszeit hat es gebraucht, eine Reise zu planen und die entsprechenden Kontakte vor Ort aufzubauen. Denn niemand macht sich von Jayapura, der Hauptstadt West-Neuguineas, allein auf den Weg in den Dschungel. Hierfür braucht es ortskundige und erfahrene Guides, die in der Lage sind, neben Essen und Trinken auch Fahrzeuge, Benzin und eine Reiseerlaubnis zu organisieren, was in Papua durchaus mit viel Kreativität verbunden sein kann. Über viele Ecken kommen genau diese nötigen Kontakte zustande. Und schon vor der Reise steht ein Preis für den Aufwand fest: rund 3000 pro Person sollte das Abenteuer vor Ort kosten, was im Nachhinein verglichen mit dem großen Einsatz der einheimischen Guides fast günstig erscheint.

Im März 2016 ist es dann also soweit: Gemeinsam mit dem Gleichgesinnten Thomas Krone macht sich Alex Schumacher auf den Weg. Über Abu Dhabi und Jakarta geht die Reise mit zahlreichen Zwischenlandungen zunächst nach Jayapura. Die größte Stadt des Landes ist Dreh- und Angelpunkt für alle Reisenden in West-Neuguinea – doch kaum jemand hier interessiert sich für die dicht bewaldeten Gebiete im Süden. So geht es in immer kleineren Transportmitteln weiter. Ein kleines Flugzeug »mit 45 Sitzen unterschiedlicher Hersteller« bringt die Reisenden in den Ort Dekai. Von hier aus soll es gemeinsam mit dem Guide im PKW nach Logpon gehen, was allerdings fast an einer zusammengebrochenen Brücke über einen der vielen, weit verzweigten Flüsse scheitert. Dass es anders kommt, hat die Gruppe der großen Hilfsbereitschaft der Einheimischen zu verdanken, die kurzerhand einen LKW für die Fahrt durch den Fluss vorbereiten und die Fahrt nach Logpon über lange Schotterpisten fortsetzen.

Nach einer Nacht in einfachen Hütten, aber stets gut versorgt, geht es mit dem Motorboot einen kompletten Tag den Fluss entlang in die von einer Mission gegründete Korowai-Siedlung Mabul.

 

Eine Fahrt, an die sich Alex sehr gut erinnern kann. »Irgendwo mitten auf dem Weg kamen wir an einen kleinen Ort, an dem wir frittierte Bananen und Instantkaffee aus Weingläsern bekamen«, erzählt er. Eine skurrile, aber dennoch sympathische Situation irgendwo im Nirgendwo. In Mabul angekommen sind Alex und Thomas – die beiden »Weißen« – eine echte Sensation. Am Tag danach ist es dann soweit: Alex Schumacher und Thomas Krone machen sich von der Missionsstation in Mabul aus auf den Weg zu einem ursprünglichen Korowai-Stamm oder vielmehr einem Familien-Clan. Denn anders als wir es kennen, leben die Korowai nicht in dorfähnlichen Siedlungen, sondern als Familienverbund in festgelegten und markierten Territorien.

Schon von weitem können die Besucher ein in etwa dreißig Metern Höhe erbautes und gut in den Baumwipfeln verstecktes Baumhaus entdecken. Das ist, wie alle Behausungen der hiesigen Ureinwohner, allein aus vorhandenen Naturmaterialien gefertigt. Holzstangen und Lianen dienen als Stützen und Befestigungsmittel, Palmwedel und Rinde als Dach und Fußboden. An der Höhe der Behausungen ist unter anderem abzulesen, unter welchen Umständen sie errichtet wurden. Wird in Friedenszeiten eine Höhe zwischen zehn und 25 Metern bevorzugt, kann es in turbulenten Zeiten zum Schutz der Familie vor Feinden auch bis zu 50 Meter in die Wipfel hinausgehen.

Bei den Korowai angekommen, dürfen Alex und Thomas am traditionellen Leben der Menschen teil-haben. Sie sehen die Frauen in aller Leichtigkeit glat-te Baumstämme erklimmen, um die Blätter als Salat zu pflücken. Grundnahrungsmittel allerdings ist »Sago«, das aus dem Mark der Sagopalme ausgespült und getrocknet wird. Es dient der Zubereitung von Broten und Fladen, die im Feuer gebacken werden. Beliebt sind bei den Korowai aber auch die Sago-Würmer, die unter der Rinde der Palmen sitzen und eine leichte Beute sind. Für die europäischen Gäste werden sie gebraten serviert, ursprünglicher werden die Tiere roh gegessen.

Nach einer ersten Nacht in einem rund 12 Meter hohen Haus kommt es in der darauffolgenden Nacht dann zum unvergesslichen Baumhaus-Abenteuer im höchsten Haus des Clans in rund 30 Metern Höhe – und das beginnt mit der Herausforderung, über die große Leiter auf die Wohnplattform zu kommen. Geschafft werden muss das, bevor es dunkel wird – und runter geht es frühestens nach zwölf Stunden nach einem wunderbaren Dschungel-Sonnenaufgang, der für einige Strapazen entschädigen wird.

Denn anders als erwartet sind auch in großer Höhe die Moskitos ein allgegenwärtiges Problem, das nur mit viel Gegenwehr auszuhalten ist. Europäische Abwehrmittel sind den Tieren durchaus egal. Erschwerend hinzu kamen für Alex und Thomas in der Nacht gleich zwei Gewitter, die den Baum und somit auch das Haus gewaltig schaukeln ließen. Auch das macht den Besuch bei den Korowai zu einem unvergesslichen Erlebnis.

Trotz aller Widrigkeiten würde Alex Schumacher die Reise auch mit einem Jahr Abstand jederzeit gerne wiederholen. Denn abseits von jeglicher Zivilisation hat er bei den Korowai ein ungewöhnlich starkes Gefühl von Geborgenheit und Sicherheit empfunden, das uns in seiner Natürlichkeit gar nicht mehr bekannt zu sein scheint. Vielmehr geben wir uns Tag für Tag echten Gefahren, Lasten und Blockaden hin, die wir nicht mehr als solche wahrnehmen. Die Ureinwohner der Provinz Papua in West-Neuguinea konnten sich diese Freiheit lange bewahren. Mit jedem Schritt in Richtung »Zivilisation« allerdings geht auch ihnen das Ursprüngliche verloren, denn im Dorf nahe Mabul lebt schon heute kein junger Korowai mehr ganz traditionell oben im Baumhaus. Diese Freiheit bleibt denen vorbehalten, die bis heute in den weiten Urwäldern als »kontaktlos« gelten. Und doch ist Alex dankbar, die Möglichkeit bekommen zu haben, die freundlichen und zuvorkommenden Korowai besuchen zu dürfen – und die Reise geht weiter!

Fotos: Alex Schumacher und Thomas Krone
Text: Benedikt Hensdiek