Sie sind dreckig, dem Verfall ausgesetzt und oftmals warnen Schilder oder sogar ein Zaun vor dem Betreten, vor möglicher Einsturzgefahr und gefährlichem Terrain. Und trotzdem: So verlassen und vergessen, wie die Bezeichnung »Lost Places« sie betitelt, sind sie lange nicht mehr. Das Erkunden von alten verlassenen Orten ist beliebt wie nie und hat sich zu einem echten Trend mit einem modernen Namen entwickelt. »Urban Exploring« bezeichnet das Hobby der Neugierigen, Kreativen und Historisch-Interessierten. In einer Gruppe geht es in verlassenen Häusern, stillgelegten Industrieruinen und ehemaligen öffentlichen Orten auf Entdeckungstour – auf eigene Faust und ohne Rücksicht auf Verbote. Aus Genuss an der authentisch-historischen Atmosphäre oder aus schierer Abenteuerlust. Auf der Suche nach spektakulären Kameraschüssen, Videoaufnahmen oder Puzzlestücken der Vergangenheit. Die Motive der sogenannten Urban Explorer - oder kurz Urbexer – sind vielfältig und die Touren mitunter gefährlich.

Auch André Winternitz teilt die Faszination für Bilder, die verstörend und fesselnd zugleich wirken. Er besucht die Orte, um sie nach einem möglichen Verschwinden für die Nachwelt virtuell erlebbar zu machen. Winternitz ist freier Journalist, Redakteur und Gründer des Onlineportals »rottenplaces.de.« Sein Onlineportal und auch das gleichnamige Magazin aus seiner Feder, leben von den beeindruckenden Bildern und spannenden geschichtlichen Artikeln rund um verfallene Bauwerke, Industriekultur und dem Denkmalschutz. Sein Auftrag ist es, »schneller zu sein als der Bagger«, um Industrieruinen und historische Orte in seiner kleinen Redaktion in Schloß Holte-Stukenbrock für die Nachwelt zu dokumentieren. Als wir versuchen André Winternitz telefonisch zu erreichen, brauchen wir erst einmal ein paar Anläufe. Nach einer E-Mail und einem fest vereinbarten Telefontermin bekommen wir ihn an einem klirrend kalten, aber sonnigen Nachmittag doch an die Strippe. Wir erfahren, dass er momentan alle Hände zu tun hat und er zwischen zahlreichen Außenterminen und bundesweiten Redaktionskonferenzen so ziemlich eingespannt ist. »Der Hype um die verfallenen Orte war nie größer«, erzählt er uns. Egal, ob in Büchern und Filmen, Musikvideos, auf YouTube oder in Erzählungen: Immer öfter begegnet man der Szenerie verlassener Orte. Und auch wir haben uns für Videodrehs für unser Format Gt:Rappt schon den ein oder anderen verlassenen Platz ausgesucht.

Bei unserem ersten zufälligen Besuch auf »rottenplaces.de« stoßen wir auf tagesaktuelle Nachrichten aus der Welt der verfallenen Bauwerke und auf ein riesiges Objektarchiv, in dem mittlerweile 910 Objekte in verschiedenen Kategorien gelistet sind. Wir bleiben direkt bei der ersten Kategorie »Bahnanlagen« hängen und entdecken zwischen Objekten aus ganz Deutschland auch den alten Verladebahnhof Gütersloh. Neben verschiedenen Bildern erfahren wir Interessantes zur Geschichte der Anlage – von der Inbetriebnahme 1932 bis hin zur Gegenwart und dem Bau des Areals »Gleis 13.« Auf unserer virtuellen Entdeckungstour durch die 23 Kategorien lassen uns die beeindruckenden Bilder bei so manchem Eintrag länger verweilen. Mal sind es ehemals prunkvolle Villen, mal alte Krankenhäuser und Kirchen, die uns staunen und schaudern lassen. Auch, wenn sich bei der Fülle an dokumentierten Objekten so manch ein Urbexer schon die Finger leckt: Adressen gibt Winternitz nirgendwo Preis. Ganz im Gegenteil: Sein Onlineportal distanziert sich deutlich von dieser Szene. André Winternitz arbeitet in Kooperation mit Heimatvereinen, Liegenschafts- und Denkmalämtern, Investoren, Bauträgern und Entscheidern, um zu informieren und kritisch auf den Punkt über Entwicklungen rund um verfallene Bauwerke, Denkmalschutz und Industriekultur zu berichten. In den vergangenen Jahren hat er zahlreiche Kontakte geknüpft und ein starkes Netzwerk aufgebaut. Jeden Tag flattern E-Mails ein – mit neuen Informationen zu bereits archivierten Objekten und nicht selten auch mit Objekten, die sich noch nicht in seinem Portal wiederfinden.

Den Zauber des Verfalls entdeckte Winternitz für sich Ende 2008. Für einen Artikel machte er sich auf die Suche nach mystischen Orten und dachte sich: »Die muss es doch auch in unserer Region geben.« Auch wenn es nicht leicht war, führten ihn seine Recherchen tatsächlich zum Ziel. Welche Orte gemeint sind, verrät er uns nicht. Wohl aber, dass die Faszination des Vergänglichen ihn damals gepackt hat, wie ein »Virus«, den er nun nicht mehr abstreifen kann. Beeindruckt von den Bildern gründet er die Internetseite »rottenplaces.de« und dokumentiert dort seine Funde.

 

Gemeinsam mit seiner Partnerin macht er sich immer öfter auf Reisen durch Deutschland. Die beiden legen zahlreiche Kilometer zurück und mit jedem Fund wächst das Portal weiter. So weit, dass Winternitz sich 2013 von seinem Arbeitgeber löst und sein Hobby endgültig zu seinem Job macht und das kostenlose »rottenplaces Magazin« als Pendant zum Webportal gründet. Alleine kommt er schon lange nicht mehr gegen die Flut von E-Mails an, die ihn täglich erreichen. Unterstützt wird er von den Menschen, die ebenso fasziniert von der Ruinen-Romantik sind wie er. »Hier bin ich der einzige Vollzeit-Redakteur, aber auch eine handvoll Redakteure aus anderen Bundesländern schreiben für mich.« Die Community ist groß: Das Portal lebt auch von Beiträgen anderer, die Winternitz im Laufe der Jahre kennengelernt hat und die sich auch mit dem verrückten Virus infiziert haben. »Da schreibt man sich auch schon mal gegenseitig Gastbeiträge.« Der Hype beschert ihm reichlich Arbeit, aber er freut sich: »Es soll schon dahingehen, dass diese Orte immer beliebter werden.« Klar, denn umso länger braucht es, bis der Bagger kommt.

Dennoch hat die immer größer werdende Beliebtheit der Orte auch ihre Kehrseite. Es gibt viele schwarze Schafe, Vandalen, Graffiti-Sprayer und Hobby-Fotografen, die sich alleine in die einsturzgefährdeten Gebäude begeben und auf der Suche nach dem perfekten Motiv echte Risiken eingehen. »Kein Foto ist das Leben wert«, warnt Winternitz alle, die nur auf der Jagd nach Foto-Trophäen sind.

»Wir haben über die Jahre natürlich viele Erfahrungen gesammelt. Wenn wir sehen, dass ein Zutritt zu gefährlich ist, die Decke herunterhängt und schon gestützt wird, betreten wir Gebäude nicht. Generell versuchen wir, bei jedem Ort eine Genehmigung einzuholen. Wenn wir einen Zeitzeugen finden, der vor vielen Jahren an dem Ort gearbeitet und Geschichten zu erzählen hat, ist es umso spannender.« Bis die Behörden grünes Licht geben, kann es schon mal ein Weilchen dauern. Und nicht nur das: »Wenn ich dann endlich zum Vorsprechen eingeladen werde und mein Anliegen erkläre, schütteln die älteren Herren vom Bauamt erst einmal mit den Köpfen. Wenn ich dann aber erkläre, was ich eigentlich genau mache, fangen die Augen an zu leuchten. Mit den Worten: ›Mensch, komm mal runter und bring die Pläne mit‹, wird dann schonmal kurzerhand der Kollege dazugerufen.«

Nur in dem Fall, dass er über einen Ort so gar nichts herausbekommt, besucht er ihn auch ohne Genehmigung. Herein geht es aber nur, wenn es der Zustand des Gebäudes erlaubt und Türen nicht verschlossen sind. »Für meine Partnerin ist es ein schöner Ausgleich zum Job als examinierte Altenpflegerin.« Die Beiden sind in Nordrhein-Westfalen regelmäßig auf Tagestouren unterwegs. Ab und zu stehen auch längere Touren in die neuen Bundesländer an. »Im Ruhrgebiet gibt es reichlich zu entdecken, aber die Objekte in den neuen Bundesländern sind am spektakulärsten. Die liegen oftmals noch so richtig im Dornröschenschlaf, von Graffiti und Vandalismus keine Spur.« Da haken wir doch gleich mal nach: Welcher Ort war denn bisher der beeindruckendste?

»Es gibt so einige Perlen«, verrät uns André Winternitz. Richtig festlegen möchte er sich aber nicht »Jedes Objekt ist auf seine Art und Weise einzigartig und strahlt Eleganz aus. Man muss es nur richtig betrachten und wirken lassen.«

Mitte November letzten Jahres ging es für Winternitz in die Schweiz, nach Basel. Allerdings nicht zur Erkundung eines weiteren Objektes, sondern zu einer Preisverleihung. Für seine Internetseite »rottenplaces.de« ist er mit dem Internetpreis des Deutschen Preises für Denkmalschutz ausgezeichnet worden. Als er davon erfährt, ist er gerade auf einer Tour in Sachsen und erst einmal sprachlos. Wer ihn nominiert hat, weiß er bis heute nicht genau. Winternitz vermutet aber, dass er die Nominierung einer Stiftung oder einem Verein zu verdanken hat. »Der Preis ist wie ein Ritterschlag für mich, bringt aber auch viele neue Aufgaben mit sich«, berichtet Winternitz ehrfürchtig. Auch wir ziehen unseren Hut vor dem gelernten Zimmermann, der zum Grafikdesigner umsattelt und ein Fernstudium im Bereich Journalistik drauflegt, um sein Hobby mal eben zu seinem Beruf zu machen – und dafür dann auch noch einen bedeutungsvollen Preis gewinnt. Glückwunsch, Herr Winternitz! Wir freuen uns schon auf die nächsten Objekte im Archiv und spannende virtuelle Erkundungstouren!

Text: Charline Belke
Bilder: André Winternitz