SELBSTÄNDIG DURCHS LEBEN

 

Carl zu Besuch bei Alexander Günther

Es ist ein besonderer Gang durch die Stadt, intensiv und bewusst, zwischenzeitlich überkommt mich ein Gefühl der Ungewissheit, was auf mich zukommt. Gleichzeitig freue ich sehr auf einen Menschen, der mir – wie gewohnt an dieser Stelle – seine Geschichte erzählen wird.

Alexander Günther hat das Los »Down Syndrom« gezogen. Eine Genmutation des 21. Chromosoms, das drei anstatt zwei Mal im Chromosomensatz vorhanden ist. Die körperlichen Merkmale der Betroffenen sind vielen von uns bekannt, auf der anderen Seite stehen mehr oder weniger kognitive Einschränkungen. Anlässlich des Welt Down Syndrom Tages am 21.03. haben wir uns aber vor allem eine Frage gestellt: Wie sieht der Alltag eines erwachsenen Menschen mit Down Syndrom aus? 

In Zusammenarbeit mit der Lebenshilfe Gütersloh sind wir schnell auf die WG von Alexander Günther und seinem Mitbewohner gestoßen. Besuch von Carl? Dem hat er ganz spontan zugesagt. Wenig später stehe ich vor der Wohnungstür und werde von ihm, seiner Mutter und der Leiterin des AUW-Teams der Lebenshilfe, das sich im Rahmen des ambulant unterstützen Wohnens um die Bewohner kümmert, begrüßt.Mit dreißig Jahren hat Alexander Günther zum ersten Mal den Wunsch geäußert, alleine wohnen zu wollen. Heute ist er 36 Jahre alt und wohnt seit drei Jahren in der kleinen Wohnung in Innenstadtnähe. Für einen Menschen mit Down Syndrom ein Schritt, der viel Vorbereitung und auch dauerhafte Unterstützung braucht. Denn eine Wohnung mit entsprechendem Betreuungsangebot wie dem der Lebenshilfe ist auch in Zeiten, in denen der Begriff Inklusion politisch ganz oben auf der Tagesordnung steht, nicht einfach. Alexander und seiner Mutter ist es nach langer Suche gelungen – einige Kilometer vom vorherigen Wohnort Schloß Holte-Stuken- brock entfernt.

 

Als er geboren wird, weiß noch niemand vom Gendefekt des Kindes. Allerdings weisen zahlreiche Anzeichen darauf hin. Die Vierfingerfurche, die als deutlich sichtbare Linie über die komplette Handinnenfläche verläuft, ist eines davon. In Zeiten der ausgereiften pränatalen Diagnostik wäre der Gendefekt heute wahrscheinlich bereits im Vorfeld erkannt worden – in neun von zehn Fällen ist die Diagnose nach wie vor das Todesurteil für das ungeborene Kind, das mit Einschränkungen in den meisten Fällen fähig wäre, ein glückliches Leben zu führen.

Freude ist auch das, was Alexander Günther mir entgegenstrahlt. Er hat sich gut eingelebt in Gütersloh, fährt täglich selbständig mit dem Bus oder dem Fahrrad zur Arbeit in der Werkstatt für behinderte Menschen des Wertkreises Gütersloh und versorgt sich auch weitgehend alleine. Er hat ganz normale Arbeitstage und auch danach oft Programm. Pünktlich aufzustehen fällt ihm nicht immer leicht, für alle Fälle hat er aber einen extra großen, leuchtend gelben Wecker neben dem Bett stehen. Dienstags geht es mit dem Bus zur Sportgruppe nach Augustdorf, danach verbringt er die Nacht bei seiner Mutter zu Hause. Der Kontakt zur Familie ist nach wie vor sehr wichtig, wie bei jedem von uns auch. Donnerstags geht es zum »Kaffeeklatsch«, einem festen Treff, den die Leiterin des ambulant unterstützen Wohnens, Gertrudis Keller, vor einigen Jahren in der Hausgemeinschaft Grüne Straße ins Leben gerufen hat. Etwa 15 Menschen treffen sich hier wöchentlich zum Austausch, für Verabredungen und zur Freizeitgestaltung. Wichtige soziale Kontakte für alle Beteiligten. Abwechselnd backt einer der Teilnehmer einen Kuchen für alle – das schult ganz nebenbei das selbständige Leben mit all seinen Herausforderungen.

Was heute im Bereich der Integration von erwachsenen Menschen mit Behinderungen in die Gesellschaft, aber auch unter dem Motto Inklusion bereits in frühen Jahren deutlich besser akzeptiert ist, war in Alexanders Kinderzeit ein Novum: rund eineinhalb Jahre besuchte er eine ganz normale Kindertagesstätte. »Dort hat er den >normalen< Kindern auch mal gezeigt, mit einer anderen Art durchs Leben zu gehen. Er konnte sich zum Beispiel stundenlang damit beschäftigen, Steine zu fühlen. Andere Kinder haben das dann ganz bewusst einfach mitgemacht«, erinnert sich seine Mutter an diese Zeit. Eine Möglichkeit, diesen integrierten Weg weiter zu gehen, gab es damals nicht. Er besucht vierzehn Jahre die Schule am Teutoburger Wald in Horn – und bekommt mit zehn Jahren seinen eigenen Schlüssel, um selbständig nach Hause zu gehen.

Der Wille, alles alleine zu schaffen, treibt Alexander Günther durchaus an. Nur sein Kopf macht das nicht immer mit, sagt er. Beim Schreiben und Lesen tut er sich schwer, obwohl er all das bereits einmal konnte. Die stete Wiederholung fehlt ihm als Übung. Der Umgang mit Zahlen ist für ihn schon immer ein Problem gewesen. Klare Vorstellungen zu Mengen und Zeiten hat er nicht, mit dem Rechnen klappt es ebenfalls nicht. Und doch kommt er im Alltag gut zurecht. Begleitet von der Lebenshilfe, seiner Mutter und Menschen in seinem Umfeld.

In seiner Freizeit hört er gerne Musik, spielt er mit der Playstation oder nutzt die zahlreichen Angebote der Institutionen. Urlaube waren ebenso dabei wie Tagesausflüge. Einmal im Jahr geht es für den Schalke-Fan, der auch schon Bayern und Dortmund angefeuert hat, mit der Lebenshilfe zu einem Länderspiel der deutschen Nationalmannschaft. Dieses Jahr geht es dafür nach Berlin. Seine »Heimatstadt«, wie er sie nennt und damit die Begeisterung für die Hauptstadt ausdrückt. Ein weiteres Highlight im Jahr ist der Auftritt beim inklusiven Karneval in Harsewinkel. Bereits zum dritten Mal stand Alexander in diesem Jahr vor einem begeisterten Publikum auf der Bühne. Sichtlich stolz präsentiert er dann auch den Videobeweis auf seinem Smartphone.

Am Ende des Besuches, als Alexander Günther mir auf dem Hof sein Fahrrad präsentiert, bin ich begeistert von der Lebensfreude und dem Mut, den weiteren Schritt in die Eigenständigkeit gegangen zu sein. Und es zeigt, dass Menschen mit Down Syndrom durchaus auch in der Lage sein können, ein solches Leben zu führen. Und nicht zu vergessen: sie sind immer gut drauf und somit ein ganz besonderer Schlag Mensch, die inmitten der Gesellschaft eine wirkliche Bereicherung sind.