Zug um Zug...
Nah an Harsewinkels Ortskern, ein wenig versteckt zwischen Industriegebiet Ostheide und Gütersloher Straße liegt ein rotes Backsteinhäuschen direkt an den Bahnschienen. Ein weißes, verwittertes Schild mit dem Schriftzug Harsewinkel erinnert noch daran, dass an dieser Haltestelle einst Passagiere ein- und ausgegangen sind. Bei den bunten Farbschmierereien auf dem roten Klinker, all den Spanplatten in den Fenstern und verrammelten Türen, wird aber auch Ortsunkundigen schnell klar, dass der Zug hier schon seit langem abgefahren ist. Von Dornröschenschlaf kann jetzt trotzdem keine Rede mehr sein, denn seit Kurzem gibt es einen neuen Besitzer. Nach etwa drei Jahren der Verhandlungen mit der Teutoburger-Wald-Eisenbahn (TWE) darf der Harsewinkeler Andreas Hanhart das kultige Häuschen jetzt endlich sein Eigen nennen und lässt Zug um Zug neues Leben einziehen. Uns öf fnet der neue Hausherr die Türen. Eine Fahrkarte, bitte!
Auch wenn Andreas »Andy« Hanhart – Mitglied der »Landeier« – für so einige verrückte Ideen bekannt ist, eine Fahrkarte für eine Einmalfahrt nach Gütersloh bekommt man bei ihm auch in Zukunft nicht. Auf dem 1350 Quadratmeter großen Grundstück soll seine Eventagentur demnächst ein neues Zuhause finden. Als wir ihn Mitte August in seiner zukünftigen Adresse »Am Bahnhof 9« besuchen, werden wir gleich in Arbeitsmontur begrüßt.
Nach seinem Vollzeit-Job als Fahrer für einen Baustof fhandel, geht es für ihn am Bahnhof gleich weiter. »Es gibt viel zu tun.« Und davon wollen wir uns gleich selbst überzeugen. Wir folgen Andy durch das Erdgeschoss. Ein kleiner Flur, zwei größere Räume, eine Lagerhalle und zwei Toiletten: Bis auf ein paar Reliquien aus vergangenen Zeiten und jeder Menge Spinnweben über unseren Köpfen sind die Räume leergefegt.
Ideen hat Andy dafür umso mehr. Der Hauptraum des ehemaligen Bahnhofs soll in Zukunft sein Agenturbüro beherbergen. Hier erinnert ein kultiger Kartenschalter mit Guckloch, Geld- und Fahrkartendrehteller noch an vergangene Zeiten. Der Raum dahinter – in dem damals noch die Fahrkartenverkäufer saßen – soll ebenfalls zur Bürofläche werden. Das gute alte Stück muss an dieser Stelle weichen. Stattdessen träumt Andy hier von einer drehbaren Regal- und Fernsehwand. »Der Schalterbereich kommt aber nicht weg«, gibt er Entwarnung. Der taugt auch gut als Durchreiche zur Küche«. Bevor es aber an die Inneneinrichtung geht, stehen noch einige andere Sachen an. Unter anderem muss die komplette Elektrik sowie eine Heizung installiert werden. Als nächstes rücken die Dachdecker an und es geht den alten Dachziegeln an den Kragen. »Der Charme des alten Gebäudes soll natürlich erhalten bleiben«, klärt uns Andy auf. Es werden neue Rundbogenfenster mit Sprossen eingebaut – so wie es im Jahr 1900 war, als der Bahnhof festlich eröffnet wurde. Und auch die Halle mit den alten Balken soll so erhalten bleiben. Hier möchte Andy das Equipment für seine Events lagern.
Wir nehmen drei Stufen und stehen in der 120 Quadratmeter großen Lagerhalle. Noch herrscht hier gähnende Leere – bis auf einen Grill in der Ecke. Und der darf auch nicht fehlen. »Na klar, Handwerker haben doch immer Hunger«, entgegnet Andy. An einer Wand entdecken wir zwei große Bücher in schwarzem Einband, die an einer Wand lehnen. »Bahnhofskassenbuch Bf. Harsewinkel«, entzif fern wir den Titel. »Die habe ich beim Aufräumen gefunden. So alt wie es scheint, sind sie aber nicht«, bemerkt der neue Bahnhofsbesitzer. Die Zeilen und Spalten sind gespickt mit allerlei Namen und DM-Preisen aus den 80ern. Einer Zeit, zu der der Personennahverkehr schon seit längerem eingestellt war. Durch ein großes Tor gelangen wir nach draußen und stehen auf einer Verladerampe. Andy zeigt symbolisch mit dem Fuß auf die Grenze und danach auf einen roten Punkt zwischen Abstellgleis und den Bahnschienen: »Bis hier geht mein Grundstück.« Damit ist nun auch das Abstellgleis sein Eigen. Hey, wer kann schon behaupten im Besitz eines eigenen Gleisstranges zu sein? Hier würde der Hausherr in Zukunft nur zu gerne einen alten Waggon abstellen.
Nach einem kleinen Fotoshooting geht es durch den beschmierten Windfang, der ebenso weichen wird, (»Der kommt weg, der ist ja auch ein totaler Stilbruch zum restlichen Gebäude!«) wieder rein in den alten Bahnhof. Über eine knartschende und knackende Wendeltreppe erreichen wir die beiden Obergeschosse. Schon auf der Treppe werden wir vorgewarnt: »Dort sieht es wild aus.« Und tatsächlich: Hier sind die Handwerker schon fleißig gewesen. Vor allem in der obersten Etage bewegen wir uns nur in einem kleinem Gang, rechts und links von uns abgeschlagene Fliesen, Tapetenreste, Dämmmaterialien. Wir erfahren, dass die oberen Etagen von Zeit zu Zeit von Lokführern bewohnt waren. Auch in Zukunft soll hier wieder gewohnt werden – auf 85 Quadratmetern über zwei Etagen und mit großer Dachterrasse. Und was den Zeitplan angeht? »Bis März, passend zu Karneval, will ich unten mit meiner Agentur einziehen. Die Arbeiten in der ersten und zweiten Etage werden wohl noch ein halbes Jahr länger dauern«, schätzt Andy den momentanen Stand der Dinge.
Für ihn steht Karneval 2019 also ein bisschen im Sinne von Ende und Neuanfang. Denn wie schon in der Presse bekanntgegeben, steht dann auch das letzte Konzert der »Landeier« an. Wehmütig wird Andy deswegen aber nicht. »Dann mach ich halt mit meiner Rock-Cover-Band den »Rockbusters« weiter.« Eine Frage steht dann aber doch noch im Raum: Wie ist er denn überhaupt darauf gekommen, den alten Bahnhof zu kaufen? Andy grinst: »Eigentlich war es die Idee und Träumerei einer guten Freundin. Jedes Mal, wenn ich mit dem Fahrrad hier lang bin, dachte ich: Mensch, das ist doch viel zu schön, um das verfallen zu lassen.« Man darf gespannt sein, was Andy draus macht und freuen uns schon jetzt auf ein Wiedersehen – in seiner Eventagentur im neuen, alten Bahnhof, zum Landeier-Abschied an Karneval oder vor der Bühne beim großen Rockbusters-Gig. · cha