Die goldene Jazz Ära

Zwischen 1981 und 2008 waren in Gütersloh reihenweise Jazz-Weltstars zu Gast.  Das ist vor allem einem Mann zu verdanken.

Gütersloh war einmal. . . Jazz-City. Eine Stadt, in der Weltstars des Jazz, aber auch viele Größen verwandter Musikgenres wie Blues, Gospel, Chanson und Weltmusik regelmäßig live zu hören und zu sehen waren: Miles Davis, Dizzy Gillespie, Ray Charles, Dave Brubeck, Pat Metheny, Eartha Kitt, B. B. King, Odetta, Juliette Gréco, Cesaria Evora und viele, viele mehr. Sie traten im großen und im kleinen Saal der Stadthalle auf, im alten Theater der Stadt (im Volksmund Paul-Thöne-Halle), sie spielten und sangen in der Aula des Städtischen Gymnasiums, in der Martin-Luther-Kirche und der Apostelkirche. Das Zentrum des Gütersloher Jazzwunders, das sich in den Jahren zwischen 1981 und 2008 ereignete, war jedoch der Saal des »JZ«, des städtischen Jugendzentrums gegenüber dem Hauptbahnhof.

Das Büro des JZ ist damals die Schaltzentrale von Josef Honcia, einem liebenswerten Egomanen und Jazzfan. Eigentlich ist Honcia Sozialarbeiter in Diensten der Stadt. Auf der Erfolgswelle der von ihm 1981 -zunächst ganz unauffällig zur Unterhaltung und Bildung der Jugend - gestarteten Jazzreihe verwandelt sich seine Stelle im Laufe der Zeit wie selbstverständlich in die eines Vollzeit-Konzertveranstalters. Honcias Telefon- und Fax-Nummer findet sich im Notizbuch der wichtigen Jazzmusiker und maßgeblichen Konzertagenturen zwischen Gütersloh und New York. Die Namen der eintrudelnden Anfragen werden dank des erstklassigen Rufs der Jazzreihe in Musikerkreisen immer prominenter.

Aus diesem Luxus-Angebot mixt Josef Honcia von Saison zu Saison einen Konzert-Cocktail, der bei Jazzfans in der Stadt und rasch auch weit darüber hinaus Kultstatus genießt. Wer zu Hause alte Bluenote-Platten stehen hat und die Helden jener goldenen Jazz-Ära einmal leibhaftig erleben will, muss nicht nach Berlin, Hamburg, Frankfurt oder München fahren. Sie kommen nach Gütersloh - und meist nicht nur einmal. Die Namen lesen sich wie ein »Who is Who« des Jazz: Art Blakey & The Jazz Messengers, Joe Henderson, Max Roach, Abbey Lincoln, Freddie Hubbard, Herbie Hancock, Wayne Shorter, Elvin Jones, Lou Donaldson, Jimmy Smith, Don Cherry, Cecil Taylor, Nat Adderley, Johnny Griffin, Ray Brown, Betty Carter. »Ich spiele gern bei Josef«, sagt auch John McLaughlin, der die Reunion-Welttournee seines gefeierten Gitarrentrios mit Paco de Lucia und Al DiMeola 1996 in Gütersloh beginnen lässt.

Das Besondere an den Gütersloher Konzerten ist nicht nur, dass die großen Stars überhaupt hier sind, sondern dass sie hier in vergleichsweise intimem Rahmen zu erleben sind. Nina Simone, die fabelhafte Sängerin und Pianistin, überblickt zu Beginn ihres Konzerts 1992 im ausverkauften alten Theater etwas fassungslos die rund 500 versammelten Zuhörer und meint: »You look like a little nice family« (Ihr seht aus wie eine nette kleine Familie). Sie ist natürlich weitaus größere Hallen gewöhnt. Auch bei Miles Davis sitzt man 1989 und 1991 in der Stadthalle, gemessen an den sonst für ihn üblichen Auftrittsorten, ziemlich nah dran.

Nina Simone hatte recht: Das Publikum in Gütersloh bildet tatsächlich so etwas wie eine Familie. Für deren Mitglieder ist es Ehrensache, möglichst kein Treffen zu verpassen, nicht zuletzt wegen der amüsanten Ansprachen des Familienoberhaupts. Bevor der erste Ton erklingt, legt Josef Honcia jedes Mal auf der Bühne eine einzigartige Mischung aus Stand-up, lokalem Kabarett und Werbespot (für die nächsten Konzerte) hin. Die im Hintergrund meist schon wartenden Musiker verstehen kein Wort, aber den Spirit dieser gut aufgelegten Jazz-Community bekommen sie intuitiv mit.

Wer je in New York im Village Vanguard war, dem vielleicht traditionsreichsten der dort noch bestehenden Jazzclubs, der weiß, dass der von Honcia liebevoll für Konzertzwecke hergerichtete JZ-Saal den Vergleich mit der Ersten Liga internationaler Jazz-Spielstätten nicht zu scheuen brauchte. Dieser Saal ist auch beteiligt, als Gütersloh an einem Wochenende im November 2001 einen absoluten Höhepunkt seiner Historie als Jazz-Metropole erlebt. Am Freitagabend tritt das Quintett des Trompeters Roy Hargrove im Jugendzentrum auf. Plötzlich kommen zwei Männer in den Saal und steigen mit ihren Saxophonen auf die Bühne. Sie gehören zur Big Band von Ray Charles, die bereits für den Auftritt von »The Genius« am nächsten Abend in der Stadthalle in Gütersloh weilt. Die beiden Musiker haben im Hotel von Roy Hargroves Konzert erfahren, schnappen sich spontan ihre Instrumente und fahren zum Jugendzentrum. Es folgt eine rasante Jam-Session, das Publikum tobt vor Begeisterung. Niemand, der dabei war, wird diesen Abend je vergessen. Näher ist Gütersloh der legendären Atmosphäre in den Clubs der 52nd Street im New York der 30er bis 50er Jahre wohl nicht gekommen.

Aber auch abseits vom Jazz beschert die Konzertreihe unvergessliche Erlebnisse, wie die authentischen Gospelkonzerte zur Adventszeit in der der Martin-Luther-Kirche, unter anderem mit den Barrett Sisters, Albertina Walker und den Five Blind Boys of Alabama. Unauslöschlich im Gedächtnis haften geblieben ist auch der von Josef Honcia angeführte Besuch der Five Blind Boys ,in Hallmanns Imbiss am früheren Kolbeplatz.

Wer, wie der Autor dieser Zeilen, ein wenig hinter die Kulissen der Konzerte blicken durfte, hat noch etwas andere Erinnerungen abgespeichert: Dizzy Gillespie, der beim After-Show-Dinner nonchalant ein Abführmittel ins Weinglas rührt; das entsetzte »No, no, no!« von Charlie Haden und den »Quartet West«-Musikern, die in dicker Winterkleidung in seinem alten Kadett Kombi sitzen und bemerken, dass der Fahrer im Begriff ist, den Motor und damit die Heizung auszustellen.

Schweißausbrüche bekommt der Autor dieser Zeilen noch heute, wenn er an die improvisierte Pressekonferenz nach Juliette Grécos Konzert im alten Theater denkt. Ein Journalist nach dem anderen stellt seine Fragen. Alle parlieren fließend Französisch mit dem Star, der sich seiner Schuhe entledigt hat und genüsslich die bestrumpften Zehen streckt. Dann schlägt die Stunde der Wahrheit: »My French is, ähm, not so good.« Entgegnet die Grande Dame des französischen Chansons: »Your French is indeed extremely bad.« Und beantwortet die Fragen danach ungerührt auf Englisch.

2002 geht Josef Honcia in Rente und das Jazzwunder endet. »Ich habe mir einen Traum erfüllt«, sagt Honcia damals zum Abschied. Auch nach ihm gibt es noch Jazzkonzerte in Gütersloh, aber das ist eine andere Geschichte, die wir ein anderes Mal erzählen.

Ein großes Dankeschön an den Fotografen Raimund Vornbäumen für diese fantastischen Bilder, die er in der Jazz-City Zeit für die Neue Westfälische eingefangen hat. Und an Thomas Klingebiel/NW, der uns mit seinem Text in die vergangene Zeit eintauchen lässt.