DIE TOTEN HOSEN IM INTERVIEW

CARL: In »1000 gute Gründe (ohne Strom)« heißt es: »Wo sind all die guten Gründe, auf dieses Land stolz zu sein?« Wie aktuell ist dieser 30 Jahre alte Titel?

Campino: Erstaunlicherweise ist der Text nicht verstaubt, was nicht unbedingt für die politische Situation hierzulande spricht. Dadurch, dass wir immer noch ein Problem mit rechtem Gedankengut haben, ist dieser Titel nach wie vor aktuell. Musikalisch gesehen ist der Song auch ein Beispiel für die Energie der Platte.

CARL: »Schwere(-los)« ist ein neuer Song über eine Auschwitzüberlebende namens Ada Sternberg. Hat diese Frau wirklich gelebt?

Campino: Es ist ein fiktiver Name. Ich interessiere mich sehr für Geschichte. Der Zweite Weltkrieg bleibt der Kernpunkt unseres politischen Bewusstseins, sofern wir in Deutschland geboren sind. Die Geschichte der Juden spielt da eine große Rolle. Ich finde es erschütternd, dass wir den jüdischen Mitbürgern in unserer Gesellschaft immer noch nicht gewährleisten können, sorgenfrei zu leben. Jüdische Kindergärten sind zum Teil z.B. mit Netzen überzogen, um sie vor Angriffen zu schützen.

CARL: Wir haben in Deutschland heute Politiker, die denken und reden wie Nazis. Erschreckt Sie das?

Campino: Auch bei der CDU gab es in der Vergangenheit immer wieder Hardliner, die sich vom Vokabular her wenig von heutigen rechten Hardlinern unterschieden haben. Ich denke da zum Beispiel an den jungen Heiner Geissler, damals ein übler Scharfmacher. Mit den Jahren wandelte er sich sehr und machte eine fast vollständige Kehrtwende. Bis in die Siebzigerjahre gab es in der Bundesrepublik viele ehemalige Nazis in Politik, Verwaltung und Polizei. Insofern ist dieses unterschwellige rechte Gedankengut immer ein Problem gewesen. Die Frage ist nur, wie klar es gerade auf dem Wahlzettel geäußert wird. Es ist eine neue Qualität, dass die Rechtsextremen immer frecher werden. Sie müssen gar nicht mehr riskieren, Einbußen bei den Wahlen hinzunehmen, sondern spekulieren darauf, sich beliebt zu machen. Diese Verschiebung muss man ernst nehmen. Gleichzeitig gibt es heute deutlich mehr Menschen, die sich dagegenstellen.

CARL: Was haben Sie früher gemacht, wenn ein rechter Skinhead Ihre Fans angegriffen oder den Hitlergruß gezeigt hat?

Campino: Das ging bis hin zu Straßenschlägereien. Wir haben anfangs viel in Jugendzentren in Deutschland, Österreich und der Schweiz gespielt und hatten kein Geld für eine eigene Security. In jeder Stadt herrschte eine eigene Dynamik, was die Jugend angeht. In einem Ort gab es nur Punks, im anderen nur Teddyboys und im dritten trafen sich alle. In den Achtzigerjahren gab es verschiedene Strömungen in der Skinheadbewegung, darunter antirassistische SHARP-Skins oder unpolitische Oi-Skins. Aber große Teile drifteten nach Rechtsaußen und sympathisierten mit der englischen National Front, unterstützt von Bands wie zum Beispiel Screwdriver. Diese Typen suchten die Konfrontation mit linksgerichteten Punks wie uns. Wir haben uns da nicht rausgehalten.

CARL: Wie liefen die Konfrontationen mit rechten Skinheads in der Regel ab

Campino: Wenn du von der Bühne runtergesprungen bist und es eine Schlägerei gab, war der Abend kaputt. Wir Musiker konnten von der Bühne aus schlecht sehen, ob es im Raum friedlich zuging oder nicht. Einmal spielten wir in Frankfurt - was damals als raues Pflaster galt – in der Batschkapp. Dort gab es keinen einzigen Faustschlag, weil ein Rocker an der Tür stand, vor dem alle Respekt hatten. Er hatte genau den richtigen Ton drauf zwischen Autorität und Lockersein. Sein Name war Manfred Meyer. Wir fragten ihn noch in derselben Nacht, ob er mit uns auf Tour gehen wolle, um für Ordnung zu sorgen. Von da an haben wir immer unsere eigene Security mitgebracht, die an entscheidenden Punkten eingesetzt wurde.

CARL: Kann man von einer Kontinuität im Bereich der rechtsextremen Jugendbewegungen sprechen?

Campino: Gegen Mitte/Ende der Achtzigerjahre bekam man das Problem mit den Rechtsaußen-Jugendbanden in der Bundesrepublik in den Griff. Aber mit dem Fall der Mauer lebte das alles wieder auf. Die Scharfmacher aus dem Westen zogen in die neuen Bundesländer, wo die Polizei verunsichert war, und haben dort agitiert. Und dann flammte der Rechtsradikalismus wieder überall auf. Auch auf Rockkonzerte gab es ständig Angriffe, sodass wir die Security teilweise verdreifachen mussten. Ich erinnere mich, dass zum Beispiel Die Goldenen Zitronen sogar in ihrem Bandbus überfallen worden sind. Hundertschaften der Polizei waren ständig in der Nähe der Hallen und nicht immer auf unserer Seite. Manche Gemeinden hatten Angst vor Punkkonzerten. Es war eine wilde, wirre Zeit.

CARL: Wie sehen heute Angriffe von Rechtsextremen auf die Toten Hosen aus?

Campino: Wir sind schon so lange für unsere Meinung bekannt, uns erschreckt nichts mehr und auch die Gegenseite hat sich mit den Jahren ganz schön an uns abgearbeitet. Wir leben mit den Anfeindungen im Internet, egal von welcher Seite sie kommen. Diese Leute melden sich übrigens nicht nur bei eindeutig politischen Themen, sondern schicken uns immer wieder herablassende Kommentare. Die rechte Szene ist im Netz gut organisiert und weiß, wie man einen Mob entstehen lässt.

CARL: Wie gehen Sie damit um?

Campino: Das geht unsere ganze Gesellschaft an. Wir müssen alle lernen, damit zu leben. Das ist einfach der störende Begleitton, ohne den es anscheinend nicht mehr möglich ist, irgendwo etwas Grundsätzliches zu sagen. Die Vorwürfe in punkto Flüchtlinge sind immer dieselben: »Nimm doch bei Dir zuhause selber welche auf! Ein reicher Sack wie Du kann sich das ja erlauben. Da, wo ich lebe, müsstest du mal sein«. Es sind immer dieselben Sprüche. Das erschüttert keinen mehr.

CARL: Zurück zur Musik: 2020 wird es auch eine stromlose Tour geben. Warum ist Ihre Lust auf Konzerte ungebrochen?

Campino: Wir sind nicht zufällig eine Band geworden und lieben es, unterwegs zu sein. Natürlich freut man sich heute über ein Hotelzimmer, was wir früher nicht hatten. Wir reizen das Touren nicht mehr so aus, sondern dosieren es so, dass wir uns am Reisen den Spaß erhalten. Soloplatten haben wir nie gemacht, stattdessen nehmen wir das Stromlos-Projekt quasi als gemeinsamen Seitensprung. Unter 16 Musikern herrscht eine ganz andere Chemie.

CARL: Wird die »Alles ohne Strom«-Tour weniger anstrengend als eine klassische Hosen-Tour?

Campino: Glaube ich nicht. Aber die Gewichtung wird sicher anders liegen. Vielleicht muss ich weniger auf der Bühne herumlaufen, mir aber mehr Mühe geben bei der Kommunikation mit dem Publikum. Am Ende des Tages wird die Freude und Belastung ähnlich sein wie bei anderen Touren.

CARL: Ein Höhepunkt Ihrer Live-Karriere war sicherlich der Auftritt mit den Toten Hosen in Kuba im Jahr 2001. Ein denkwürdiger Gig?

Campino: Wir waren dort tatsächlich die erste Rockband, die ein Konzert mit frei erhältlichen Karten gespielt hat. Vor uns waren nur die Manic Street Preachers dort, allerdings von der Partei eingeladen und mit Fidel Castro im Publikum. Unser Konzert war während der Musikmesse Cubadisco und durchsetzt von Geheimdienstmitarbeitern und Polizisten in Zivil. Irgendwann fingen die Leute an, wie wahnsinnig Pogo zu tanzen, und ich kletterte auf einer Balustrade herum. Daran hingen mehrere Leuchtkugeln, an denen ich nicht vorbei kam. Dabei ging eine Lampe zu Bruch. Die Polizei hat sofort den Strom abgestellt und die Zuschauer rausgeschmissen. Wir sind also 8000 Kilometer geflogen, um 40 Minuten zu spielen. Das habe ich bereut. Später habe ich kapiert, dass die Kubaner große Probleme mit Ersatzteilen haben. Und da mache ich Idiot so eine Lampe kaputt.

CARL: Vor 40 Jahren veröffentlichten Sie mit dem Tote-Hosen-Vorläufer ZK Ihre allererste Platte »Tip von Twinky«. Glauben Sie, dass der Geist von Punk die Gesellschaft genauso verändert hat wie Woodstock?

Campino: Ich glaube, dass Punkrock und alles, was daraus entstanden ist, die Gesellschaft in
vielen Bereichen verändert hat: Wer bin ich selbst? Wie gehe ich meinen eigenen Weg?
Auch die Hippies haben Unglaubliches ausgelöst. Der Summer of Love war eine nicht zu unterschätzende Provokation für diejenigen, die den Vietnamkrieg fortführen wollten. Ich würde mich freuen, wenn Punk dieselbe Wucht gehabt hätte wie die Bewegung der Hippies. Meiner Meinung nach sind die Hippies bereits in dieselbe Richtung gegangen wie später die Punks. Im Grunde sind wir vom selben Schlag.

CARL: Unter welchen Umständen ist die Single »Tip von Twinky« 1979 entstanden?

Campino: »Tip von Twinky« und die B-Seite »S.O.S.« waren ursprünglich zwei richtige Pogo-Stücke. Wir waren ja eine Punkband. Das Problem war, dass unsere Gitarristen ihre Instrumente nicht richtig stimmen konnten. Der Aufnahmeraum des Studios war im Keller und oben stand das Mischpult. Also ging der Tontechniker runter und stimmte die Gitarre und den Bass. Dann ging er wieder rauf und wollte uns aufnehmen. Bis dahin sind die beiden mit ihren Gitarrenhälsen aber wieder an irgendeine Wand gestoßen oder hatten etwas verdreht. Es war ein ständiges Runter- und Raufgelaufe. Zudem waren wir so schlecht, dass sich das Lied schnell gespielt sehr unangenehm anhörte. Der Tontechniker gab uns den Tipp, langsamer zu spielen, denn dann greift man richtig und hört den vollen Klang. So wurden wir also immer langsamer, er musste aber dennoch alle halbe Stunde zum Stimmen runterkommen.

CARL: Wie haben Sie das Problem schließlich gelöst?

Campino: Sie haben oben eine Notlösung gefunden, indem wir von den Stücken langsame Dubversionen aufnehmen sollten. Das sei total cool und in London sehr angesagt. Wir in unserer Unerfahrenheit sind darauf eingegangen und haben die Stücke völlig verändert eingespielt. In der ersten Plattenkritik meines Lebens las ich dann: »ZK - wieder so eine Kunstscheiße aus Düsseldorf!« Das war ein schwerer Schlag für mich als Kid-Punk.