Auf den ersten Blick wirkt die Szenerie fast anheimelnd: Vier Biedermeier-Stühle rund um einen Tisch, auf dem ein Blumenstrauß steht. Wären da nicht die feuchten, grünlichen Wände und das Gras, das aus dem Fußboden sprießt. Nein, beim genauen Hinsehen hat das Ambiente gar nichts Gemütliches, sondern wirkt eher gespenstisch. Dieser Hauch Unheimlichkeit zeigt sich in allen Fotos auf diesen Seiten. Die stammen übrigens von Lena Descher, die von einer Freundin 2015 mit dem Urbex-Virus infiziert wurde. Zu zweit gehen sie in regelmäßigen Abständen auf die Fotojagd in alten verlassenen Gebäuden.

Urbex bedeutet Urban Exploring. Damit ist die private Erforschung von verlassenen Häusern, Industrieruinen oder Krankenhäusern, sog. »Lost Places«, gemeint. Aus der fotografischen Dokumentation und künstlerischen Verarbeitung dieser Urban Explorations entstand das neue Genre der Ruinen-Fotografie. In den schon länger verlassenen Gebäuden gibt es die unglaublichsten Szenerien: Graffiti, von Pflanzen überwucherte Räume oder bizarre Stillleben. Die Urban Explorer halten diese Eindrücke auf Fotos fest und dabei entstehen wunderbare, fast surreale Bilder.

Die unglaubliche Faszination dieser Orte und ihre besondere Atmosphäre ziehen Lena Descher magisch an. Und natürlich findet sie »urbexen« viel aufregender als einfach nur einen romantischen Sonnenuntergang zu knipsen. Denn beim Urbexen entstehen nicht nur großartige Fotos. Der Weg zu diesen Fotos ist jedes Mal unglaublich spannend. Beim Betreten einer Location kommt es vor, dass die junge Fotografin vor Aufregung am ganzen Körper zittert und das Herz rast. Denn sie weiß nie, was sie beim Betreten der Räume erwartet. Das sei zum einen wirklich beängstigend, zum anderen aber auch total prickelnd. Adrenalinschübe sind da jedes Mal garantiert! Und auch die Suche nach den Locations ist fesselnd, denn man findet sie nicht einfach im Internet. Foren und Gruppen in den sozialen Netzwerken sind eine enorme Hilfe. Dort werden allerdings keine Adressen genannt. Die kann man nur mit intensiver Internetrecherche herausfinden oder eben durch gute Kontakte. Glücklicherweise bekommen Lena und ihre Freundin ab und an ein paar sehr gute Tipps von einem befreundeten Fotografen.

Am faszinierendsten findet Lena Descher verlassene Wohnhäuser oder Hotels, denn hier gibt es meist sehr viel zu erkunden. Die am Anfang erwähnte Essgruppe entdeckte sie in einem alten Hotelrestaurant. Die Location beeindruckte sie nicht nur durch die fantastische Bildkomposition, sondern vor allem dadurch, wie schnell die Natur hier die Macht übernommen hatte, mit Moos auf dem Boden und an den Wänden rankendem Efeu.

In den »Lost Places« gibt es sehr viel zu aufzuspüren: Alte Möbelstücke, persönliche Gegenstände wie Briefe oder Bilder. So wie in dem kleinen Bauernhauscafé, einem alten Fachwerkhaus, in dem Decken und Böden zwar schon sehr morsch und teilweise eingebrochen waren, aber viele gut erhaltene Möbel zu finden waren. In der »Bambi-Villa« war vor allem das Schwimmbecken ein großartiges Motiv. Den Namen hatte das Gebäude wahrscheinlich von dem kleinen ausgestopften Reh, das Lena in der Villa fand. Wahrscheinlich gehörte das Haus einmal einem Jäger, denn hier gab es nicht nur das Reh, sondern auch zahlreiche weitere präparierte Tiere. Das Gebäude, das in einem weitläufigen Garten liegt, war allerdings bereits ziemlich verwüstet. Lenas eindeutige Lieblings-Location ist die »Rollstuhl-Residenz«. In diesem ehemaligen Altersheim standen, wie der Name schon sagt, hauptsächlich Rollstühle herum. In einem Raum befand sich ein Bettgestell, um das lauter Federn lagen – ein nahezu poetisches Bild.

Doch nicht nur die Fotomotive machen die Faszination des Urbexens aus. Jeder Ort ist auf seine Art ganz besonders und vor allem magisch. Es ist einfach immer eine kleine Zeitreise in die Vergangenheit. Für Lena ist es das Erleben dieser besonderen Atmosphäre, der einzigartige Geruch der Locations; und natürlich ist es immer eine Art Grenzerfahrung, auszuprobieren, wie weit man sich in einem morschen Haus vorwärts wagen kann – das sind Momente, die man mit der Kamera nicht einfangen kann. Dazu kommt auch immer die Frage nach den ehemaligen Bewohnern. Wie haben sie gelebt? Und warum haben sie ihr Zuhause einfach verlassen? Lena stöbert gerne in den verbliebenen persönlichen Dingen, taucht in die Geschichte der Räumlichkeiten ein und versucht anhand dieser Gegenstände herauszufinden, wie die Menschen dort gelebt haben. Natürlich bleibt alles schön an seinem Platz: Das ist die oberste Urbexregel!

Normalerweise sind Lena und ihre Freundin in Deutschland unterwegs. Doch tatsächlich haben sie auch bei einem Urlaub in Thailand »Lost Places« entdeckt. In Bangkok waren sie auf einem beeindruckenden Flugzeugfriedhof. Durch den Frachtraum ging es in eine verschrottete Boeing 747, die einer thailändischen Großfamilie, die sonst obdachlos wäre, als Wohnraum dient. Auch wenn es für die nächsten Fotos nicht so weit weg geht, die nächste spannende Location kommt bestimmt.

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