Nein, es war nicht die Sehnsucht nach Erleuchtung, weshalb der Gütersloher Journalist Thorsten Wagner schon mindestens 20 Jahre den Reisewunsch »Tibet« mit sich herumtrug. Es war wohl mehr die Frage: Wie ticken diese Menschen denn nun wirklich, die so anders ticken sollen? »Auf dem Dach der Welt« – das ist die vielgedroschene Phrase, die die geografische Lage Tibets grob beschreibt. Aber wie ist es da? Wie leben die Menschen, was ist ihnen wichtig? Sind sie so entspannt, wie es das sprichwörtliche »Ooooohmm« verheißt?
Also, die Neugier auf Menschen, die so anders leben als wir in unserer »Zivilisation« – natürlich kann man sie auch an vielen anderen Ecken der Welt stillen. Aber Tibet war eben immer schon Lebenstraum Nummer 1 – und die in den vergangenen Jahren stetig gewachsene Lust aufs Fotografieren verstärkte den Wunsch nur.
Nicht ganz einfach zu erreichen, aber mit guter Planung machbar: Tibet kommt man näher über einen Flug nach China. Das Abenteuer konnte beginnen. Nach 9 ½ Stunden Flug Frankfurt/Main – Peking gab es am nächsten Morgen noch einmal einen 5 Stunden-Flug. Neben dem Visum für China braucht man für die Weiterreise nach Tibet ein sogenanntes »Special Permit«. Das wurde von einem Guide vor dem Weiterflug nach Lhasa am Flughafen Peking übergeben.
In Lhasa angekommen, kassierte der nächste Guide die Erlaubnis zur Einreise wieder ein. Und er wich dem Reisenden Thorsten Wagner in Tibet – gesetzlich verordnet - nicht mehr von der Seite – ebenso wie ein Fahrer, denn selbst Auto fahren ist in der chinesischen autonomen Region (wie Tibet politisch korrekt beschrieben wird) für Touristen ein Tabu. Tabu sind auch die tibetische Flagge oder beispielsweise das Konterfei des im indischen Exil lebenden Dalai Lama. Wer das nicht respektiert, riskiert härtere Sanktionen von chinesischer Seite. Lhasa, die Hauptstadt Tibets, ist - auf über 3.600 Metern gelegen - quasi die Einstiegshöhe, um für sich herauszufinden, ob man mit der Höhenluft klarkommt. Tatsächlich machte nach der Akklimatisierung die ersten sieben Tage der Reise jeder weitere Zugewinn an Höhe die Atemluft dünner – Entschleunigung der anderen Art (Raucherentwöhnung inklusive).
Der Potala-Palast in Lhasa ist ein Muss für Tibet-Touristen: 13 Stockwerke hoch liegt er auf dem roten Berg in Lhasa und beherbergt 999 Räume. Von 1642 – 1959 war er die offizielle Residenz und der Regierungssitz der Dalai Lamas. Auch nach der chinesischen Kulturrevolution gilt er als eine der wichtigsten Pilgerstätten der tibetischen Buddhisten.
Der Potala-Palast beeindruckt nicht nur durch Größe, er erzählt als UNESCO-Welterbe in jedem Winkel tibetische Geschichte – und er lässt seine Besucher gleichermaßen demütig und erstaunt sein.
Das Erstaunen sollte sich während der Tibet-Reise für Thorsten Wagner regelmäßig wiederholen: Beeindruckende Tempel, Klosteranlagen und Städte nehmen den Besucher im positiven Sinn gefangen – viele warmherzige und gut geerdete Menschen taten es auch. Tibet ist mittlerweile eine Region der Kontraste: Einerseits tibetische Kultur, Bescheidenheit, Meditation und buddhistische Lebensweise – andererseits ist der chinesische Alltags-Einfluss groß und stark spürbar: Riesig dimensionierte Infrastruktur-Projekte wie die Lhasa-Bahn (1.956 Kilometer lang) lassen die zum Teil monumentale Moderne Chinas auf tibetische Traditionen treffen. Und so vermischen sich das hektische Treiben in Stadtzentren, die endlose Weite Tibets und die besondere Atmosphäre aus Gebets-Ritualen, Ruhe und Meditation zu einem einzigartigen Erlebnis, das auf den westlichen Besucher atemberaubend wirkt. Die Klosterstadt Sera, die Tempelanlagen in Ganden, Tsedang, Gyangtse oder – besonders imposant - in Shigatse übertragen die darin vorherrschende Aura auf ihre Gäste.
Wenn der Tibet-Aufenthalt zum Genuss werden soll, ist es sicher gut, sich bei der Nahrung zurückzuhalten: Ungekühltes Fleisch ist nicht zwingend gut für den europäischen Magen, Yak-Butter und –tee sind mit ihrem Fettgehalt auch eher ungewöhnlich. Vegetarisches ging während der Reise immer, solange es gut gegart war. Doch Ausnahmeerfahrungen gab es auch andersrum: Im tieferen Tibet auf ein Restaurant zu treffen, in dem es »echte« Pommes frites und italienischen Luca-Kaffee gab – das erschien wie halluziniert. Und doch war es wahr – und ließ sich nach Tagen der Zurückhaltung genießen wie ein Festmahl.Tibetische Menschen sind beeindruckend: Beeindruckend geerdet, bescheiden, aufgeschlossen - und sie betrachteten den Zugereisten immer wieder wie einen Exoten, zogen ihn regelmäßig vor Kameras, um auf dem Foto gemeinsam mit dem Ausländer zu posieren.
Am Ende der Reise bleiben unauslöschlich tiefe Eindrücke: Eindrücke aus einer anderen Welt, die einem sagen, dass es auch anderes Leben gibt. Und es gibt andere Arten zu leben – weitab von Gier, Stress und Gewinnmaximierung. Gelohnt hat sich die Reise in jedem Fall, sie war ein Geschenk: Eins fürs Bewusstsein, für Entschleunigung, für die eigene Horizonterweiterung – und, um zu erkennen, dass wir Europäer nicht das Maß aller Dinge sind.