Tony Blair in Gütersloh: Den großen Veränderungen mit Optimismus begegnen
04.04.2011 Autor: Bertelsmann // Bertelsmann Kanal
Internationale Prominenz beim Bertelsmann Forum: Nur wenige Wochen nach dem Besuch des US-Botschafters Philip D. Murphy war Anfang April der ehemalige britische Premierminister Tony Blair zu Gast in Gütersloh. Der Mann, der New Labour erfand, mit seiner Partei den höchsten Wahlsieg ihrer Geschichte erzielte und mit zehn Jahren solange wie kein anderer Labour-Politiker in der Downing Street No 10 residierte, sprach vor rund 600 Gästen aus Unternehmen und Region und damit restlos ausverkauftem Haus über Herausforderungen und Chancen in einer globalisierten Welt. Nach seiner Rede stellte sich Blair, dessen Autobiographie A Journey im englischen Original wie auch in der deutschen Übersetzung als Mein Weg bei Random House erschienen ist, den Fragen von RTL-Chefredakteur Peter Kloeppel und den Zuhörern.
Schon in seiner Einladung zum jüngsten Forum hatte Hartmut Ostrowski betont, dass es für Bertelsmann eine große Ehre sei, Blair in Gütersloh zu begrüßen. Denn: Wie kaum ein anderer Protagonist des Zeitgeschehens verbindet er den großen Erfahrungsschatz eines erfolgreichen Regierungschefs mit visionärer Gestaltungskraft in politischen, diplomatischen und gesellschaftlichen Fragen. Blair, so Ostrowski weiter, ist es gewohnt, in komplexen Zusammenhängen und über Grenzen hinweg zu denken. Das sei ausschlaggebend in einer Zeit, die uns allen zunehmend Lösungen von themenübergreifender und globaler Tragweite abverlange. Auch Thorsten Strauß, als Leiter der Unternehmenskommunikation für das Forum verantwortlich, unterstrich in seiner Begrüßung, welch außergewöhnliche Spannbreite das Engagement und die Erfahrung Tony Blairs aufwiesen: Ob wir nach Nordafrika blicken oder nach Japan die Ereignisse der vergangenen Wochen zeigen uns exemplarisch, wie grundlegend unsere Welt im Wandel ist, führte Thorsten Strauß den Gast ein. Und um diese Entwicklung zu diskutieren, bedarf es entweder eines mehrtägigen, hochkarätig besetzten Panels oder eben eines Tony Blair.
Dass er die Welt in einem dramatischen Wandlungsprozess sieht, daran ließ Tony Blair, der wie alle Redner unentgeltlich beim Bertelsmann Forum auftrat, im Anschluss keinen Zweifel. Ob Staaten, Unternehmen oder Individuen jeder muss sich den Veränderungen der Welt um uns herum stellen, um mit ihnen Schritt halten zu können. Jeder muss heraus aus seiner Kuschelecke, forderte Blair in seiner fast einstündigen Rede. Doch mit dem ihm eigenen Lächeln fügte er hinzu: Wir können und sollten diesen Wandel mit Optimismus, Zuversicht und einer positiven Aufregung gestalten. Neben den tiefgreifenden Veränderungen ist die Welt von heute für den ehemaligen Spitzenpolitiker von zwei weiteren wesentlichen Paradigmen geprägt: zum einen von den Abhängigkeiten zwischen Nationen, Gesellschaften und Volkswirtschaften; zum anderen von der Machtverschiebung von West nach Ost, namentlich nach China, Indien und Indonesien.
Die Gegenwart sei, fuhr der Ex-Premier fort, eine harte Zeit für Führungspersönlichkeiten. Denn zum einen seien die Herausforderungen überaus drängend, zum anderen kämen sie nicht wohlgeordnet nacheinander, sondern alle auf einmal. Für ihn, der in Gütersloh ja Antworten darauf geben wollte, wie er die Welt sieht, sind es in erster Linie fünf große Herausforderungen, vor denen eben diese Welt steht: die globalisierte Wirtschaft, ein starkes Europa, eine nachhaltige Energie- und Umweltpolitik, die Lage im Nahen Osten und schließlich die Frage des Umgangs der Religionen miteinander. Und wenn er, der ehemalige Schrittmacher, skizziert, wie diese Herausforderungen gelöst werden können, dann ist es vor allem ein Gedanke, der seine Sicht durchzieht, der einer richtigen, einer gesunden Balance.
Mit Blick auf die Weltwirtschaft beispielsweise appellierte Tony Blair einerseits für eine neue Wirtschaftsordnung mit verbindlichen Grundregeln, lehnte andererseits aber zu starke oder gar behindernde Eingriffe in das freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte ab. In der Energiepolitik hielt er rasches und entschiedenes Handeln der westlichen Nationen für einen wirksamen Klimaschutz für unabdingbar, schränkte aber ein: Länder wie China werden erst dann auf nachhaltiges Wirtschaften einschwenken, wenn wir ihnen vorleben, dass Nachhaltigkeit und Wachstum einander nicht ausschließen. Denn opfern werden sie ihr Wachstum nie. Von größter Wichtigkeit ist die Frage der Ausgewogenheit für Blair jedoch in seiner Beurteilung der Rolle von Religionen und Kulturen: Ob virtuell oder real in unserer globalisierten Welt treffen Religionen ganz unmittelbar aufeinander. Das können wir nicht leugnen. Dem müssen wir uns stellen, sagte der Nahost-Experte. Jede Nation und jede Gesellschaft muss die Balance zwischen Integration und Verschiedenheit finden, braucht Werte, die sie zusammenhalten, und muss gleichzeitig Diversität tolerieren. Er sei fest davon überzeugt, dass die Religion für die weitere Entwicklung der Weltpolitik eine ähnlich bedeutende Rolle wie die Wirtschaft spielen werde.
Und der Europäer Tony Blair ist genauso davon überzeugt, dass Europa nur dann Gewicht in dieser Entwicklung haben wird, wenn es stark und geeint agiert: Europa braucht ein neues Selbstverständnis als wirkliche Macht, denn für sich allein ist jedes europäische Land zu klein, um in Konzert der Großen mitzuspielen. Das gelte auch für das Gebiet, auf das Blair seit seinem Ausscheiden aus dem Amt des Premierministers den Großteil seiner Kräfte konzentriert, den Nahen Osten. Seit 2007 ist Tony Blair Sondergesandter des Nahostquartetts und repräsentiert als solcher die Vereinten Nationen, die Europäische Union, die USA und Russland in den Bemühungen, die Eigenstaatlichkeit Palästinas vorzubereiten.
Der Nahe Osten liegt vor Europas Haustür, stellte er klar, wir werden dort immer involviert sein und können uns gar nicht heraushalten, meinte er in Anspielung auf die aktuelle Frage des Libyen-Einsatzes. Nur brauchen wir einen Plan und ein gemeinsames Ziel. Denn das, was in den Ländern Nordafrikas gerade passiere und natürlich auch wieder Auswirkungen auf die Palästinenserfrage habe, sei nicht weniger als eine Revolution. Doch habe diese Revolution neben dem Wunsch nach Freiheit, Mitbestimmung und Demokratie auch eine andere Ebene, die der Kultur und der Religion. Ich rate dazu, unser Augenmerk auf Ägypten zu richten, sagte Blair, dort wird sich das Schicksal dieser Region modellhaft entscheiden.
Gekonnt fasste RTL Chefredakteur Peter Kloeppel im Anschluss an die Rede Tony Blairs noch einmal dessen Kernthesen zusammen und begab sich mit ihm auf einen halbstündigen Parforce-Ritt durch politische Stationen, Begegnungen und Einsichten. Kloeppel spannte den Bogen vom Ausscheiden aus dem Amt über die Entscheidungen im Irak-Krieg bis hin zur europäischen Finanzkrise. Und natürlich fragte er seinen prominenten Gast danach, was sich in seinem Leben nach dem Auszug aus Downing Street No 10 verändert habe. Blair antwortete mit einem Zitat Bill Clintons: You have less power, but more influence, man habe weniger Macht aber mehr Einfluss, und er stellte heraus, dass er sich mehr denn je heute auf bestimmte Dinge fokussieren und diese vorantreiben könne.
All diese Gedanken hat Tony Blair auch in seiner Autobiografie A Journey niedergeschrieben, die im vergangenen Jahr in Großbritannien bei Hutchinson veröffentlicht worden ist. Das Buch ist längst zum Weltbestseller avanciert und wird neben den USA und Kanada auch in Deutschland von Random House verlegt. So gehörte zu den Bertelsmann-Top-Managern, die Blair gestern in Gütersloh empfingen, auch seine Verlegerin Gail Rebuck, Chairman und Chief Executive der britischen Random House Group, die aus London angereist war. In seinen Memoiren gibt Blair, Vater von vier Kindern, Einblicke in sein privates und politisches Leben. Neben Erfolgen und Weichenstellungen spart er auch Niederlagen, Enttäuschungen und Kontroversen nicht aus. Auch in diesem Buch, dessen komplette Einnahmen der Autor einem Reha-Zentrum für verwundete britische Soldaten spendet, führt Blair seinen Lesern die Komplexität der modernen, globalisierten Welt vor Augen so wie seinen Zuhörern beim Bertelsmann-Forum in Gütersloh, die ihn am Ende mit lang anhaltendem Applaus verabschiedeten.