Zum 90. Gedenktag an die Bücherverbrennungen durch die Nationalsozialisten ist in der Martin-Luther-Kirche zum fünften Mal „gegen das Vergessen“ gelesen worden
Gütersloh (gpr). „Am 10. Mai 1933 fand in Berlin und in rund 21 anderen deutschen Universitätsstädten die Bücherverbrennung statt. Mit ‚Lesen gegen das Vergessen‘ soll der verbrannten und verfemten Schriften und deren Autorinnen und Autoren gedacht werden. Da wir heute in vielen Ländern weltweit immer noch zahlreiche Regelungen und Gesetze gegen eine solide Freiheit haben sowie Freiheit und Vielfalt im Grundsatz keine Selbstverständlichkeit sind, ist es umso wichtiger, sich hier und heute zu treffen, um zu erinnern. Aber auch, um in die Gegenwart und insbesondere in die Zukunft zu schauen!“ – Mit diesen Worten hat die zweite stellvertretende Gütersloher Bürgermeisterin Gitte Trostmann den historischen Anlass für das Veranstaltungsformat umrissen, das seit 2019 jährlich vom Fachbereich Kultur der Stadt Gütersloh in Kooperation mit Initiatorin Almuth Wessel und der Volkshochschule Gütersloh organisiert wird.
Musikalisch begleitete Sänger Patrick Lück die Veranstaltung in der Martin-Luther-Kirche. Bob Dylans „Blowin‘ In The Wind“, der archetypische Protestsong der Friedensbewegung am Anfang der 1960er Jahre, erklang zum Auftakt im Kirchenschiff. „Weil die Welt so ist, wie sie ist, finden hier in dieser Kirche seit gut einem Jahr immer samstagmittags um 12 Uhr Friedensgebete statt“, kündigte Erika Engelbrecht das Gebet im Mittelpunkt der Veranstaltung an. Die Pfarrerin räumte das Redepult, um Vertreterinnen von Kulturvereinen den Platz am Mikrofon zu überlassen.
Birgit Niemann-Hollatz zitierte den Schriftsteller Erich Maria Remarque: „Kantorek hielt uns in den Turnstunden so lange Vorträge, bis unsere Klasse unter seiner Führung geschlossen zum Bezirkskommando zog und sich meldete. Ich sehe ihn noch vor mir, wie er uns durch seine Brillengläser anfunkelte und mit ergriffener Stimme fragte: Ihr geht doch mit, Kameraden?“ – Wer kennt ihn nicht, den 1928 verfassten Roman „Im Westen nichts Neues“, der die Schrecken des Ersten Weltkriegs aus Sicht eines jungen Soldaten schildert. Obwohl Remarque selbst sein Werk als unpolitisch charakterisierte, avancierte es als Antikriegsroman zum Klassiker der Weltliteratur. Bereits 1930 in Hollywood verfilmt, räumte sein deutsches Remake von Regisseur Edward Berger im März 2023 als bester internationaler Film, für die beste Filmmusik, für die beste Kamera und das beste Szenenbild vier Oscars ab. Damals im Nazi-Deutschland hatte die Oberprüfstelle den Film wegen „Herabsetzung deutschen Ansehens im Ausland“ verboten. Als 1933 die Bücher brannten, waren auch Exemplare von „Im Westen nichts Neues“ dabei. Der Roman galt als schädliches und unerwünschtes Schrifttum.
Das gleiche Urteil ereilte auch den Schriftsteller Erich Kästner, der zeitlose Kinderbuchklassiker wie „Emil und die Detektive (1929)“, „Pünktchen und Anton (1931)“ und „Das fliegende Klassenzimmer (1933)“ verfasst hat. Seine publizistische Karriere begann während der Weimarer Republik mit gesellschaftskritischen und antimilitaristischen Gedichten und Essays. Nach Beginn der nationalsozialistischen Diktatur rückten seine Werke auf den Index der als „undeutsch“ diskreditierten Bücher und wurden im Herrschaftsbereich des NS-Regimes verboten. Sabine-Brigitte Müller las aus Kästners Gedicht „Sergeant Waurich“, in dem der Autor und Antimilitarist seiner Erbitterung über die Brutalität in seiner Ausbildung am deutlichsten Luft macht, zumal er sich durch den harten Drill seines Ausbilders „Waurich“ eine lebenslange Herzschwäche zuzog. Müller rezitierte: „Und wer schon auf allen vieren kroch, dem riss er die Jacke auf und brüllte: Du Luder frierst ja noch! Und weiter ging‘s. Man machte doch in Jugend Ausverkauf…“
Almuth Wessel, die Initiatorin der Gütersloher Veranstaltungsreihe „Lesen gegen das Vergessen“, trug mehrere Gedichte der in Galizien (Österreich-Ungarn) geborenen Dichterin Mascha Kaléko vor. Die Lyrikerin, die auf einem nachvollziehbar hohen Niveau Verse schmiedete, verfasste zum Jom-Kippur-Fest 1942 das Gedicht „Kaddisch“. „Rot schreit der Mohn auf Polens grünen Feldern, in Polens schwarzen Wäldern lauert Tod. Verwest die gelben Garben. Die sie gesät, sie starben. Die bleichen Mütter darben. Die Kinder weinen: Brot.“ Kalékos Dichtkunst ist bildlich gut zu verstehen und verweilt nicht im Experimentierfeld der Avantgarde.
In ihrer Rolle als Moderatorin leitete Almuth Wessel zum Werk der deutsch-schweizerischen Kinderbuchautorin Lisa Tetzner über. Sechs Schülerinnen der Janusz-Korczak-Gesamtschule lasen aus Tetzners Buchreihe „Die Kinder aus Nummer 67“. Die literarische Odyssee, in der die jungen Protagonisten eines Berliner Mietshauses wie Pech und Schwefel zusammenhalten, beginnt 1931 und der Inhalt wirft ein positives Licht auf die heranwachsenden Menschen, die sich gegen Krieg und Diktaturen zu wehren wissen. In die Rolle der auktorialen Erzählerin schlüpfte Elisa, die beeindruckenden Dialoge führten Ayla, Stella, Clara, Aleana und Honya. Da diskutiert ein Junge mit einem älteren Mann: „Sie meinen also, wenn wir zu viele Kanonen machen, haben wir nicht mehr genug Brot zu essen. Glauben Sie denn nicht, dass Krieg und Kanonen viel wichtiger sind als Schokolade? Denn wer die meisten Kanonen hat, kann den anderen alles wegnehmen“. – 1938 wurde Lisa Tetzner von den Nationalsozialisten aus Deutschland ausgebürgert.
Eine dramatisch-szenische Ausdeutung erhielten die Inhalte des „Flugblatts Nr. VI“ der Widerstandsbewegung der „Weißen Rose“, eine der wohl bekanntesten deutschen Widerstandsgruppen in der Zeit des nationalsozialistischen Terrors. Nico Dallmann zitierte den kompletten Text, der mit den Zeilen beginnt: „Kommilitoninnen! Kommilitonen! Erschüttert steht unser Volk vor dem Untergang der Männer von Stalingrad. Dreihundertdreißigtausend deutsche Männer hat die geniale Strategie des Weltkriegsgefreiten sinn- und verantwortungslos in Tod und Verderben gehetzt. Führer, wir danken dir! Es gärt im deutschen Volk: Wollen wir weiter einem Dilettanten das Schicksal unserer Armeen anvertrauen? Wollen wir den niedrigen Machtinstinken einer Parteiclique den Rest der deutschen Jugend opfern? Nimmermehr.“ – Die Geschwister Sophie und Hans Scholl sowie Christoph Probst wurden vom Volksgerichtshof unter der Leitung des sogenannten Blutrichters Roland Freisler zum Tode verurteilt und bereits vier Tage nach ihrer Verhaftung hingerichtet.
Zum akustisch untermalten Ausklang zupfte Patrick Lück an den Saiten seiner Gitarre und zog alle Stimmband-Register. Er interpretierte das Lied „The Green Fields of France“, das den Originaltitel „No Man’s Land“ trägt und auch als „Willie McBride“ bekannt ist. Es wurde 1976 vom schottisch-australischen Singer-Songwriter Eric Bogle geschrieben und beschreibt die Gedanken eines jungen Mannes, der im Ersten Weltkrieg fiel.
Der Autor Jan Weiler sagte anlässlich des 90. Jahrestags in einem Interview: „Bücher haben einen unfassbaren Wert, weil sie Freiheit der Gedanken für uns aufbewahren und von der Möglichkeit des Seins berichten. Bücher haben einen Sinn. Die Sinnhaftigkeit und das damit verbundene freigeistige Denken stehen dem Faschismus entgegen.“
Bild: Nico Dallmann zitierte den kompletten Text des „Flugblatts Nr. VI“ der Widerstandsbewegung der „Weißen Rose“ in dramatisch-szenischer Ausdeutung. (Foto: Stadt Gütersloh)