Gütersloh (gpr). Der 23-jährige Bradley Mendels aus Australien ist gerade auf Europareise. Er sieht sich Rom, Paris und Berlin an und hat jetzt auch Station in Gütersloh gemacht. Dieser Teil der Reise hat eine ganz besondere Bedeutung für ihn:
„Ich hoffe, dass ich mit dem Besuch in Gütersloh meine Familiengeschichte besser verstehe“, so der Kunst- und Soziologiestudent. „Als ich die Reise nach Europa plante, war für mich ganz klar: Ich muss auch nach Gütersloh.“ Warum er neben den vielen Metropolen ausgerechnet auch Gütersloh besucht, offenbart sein Stammbaum. Bradley Mendels ist ein Nachfahre der in Gütersloh wohnhaft gewesenen jüdischen Familie Herzberg. Seine Urgroßmutter Käthe Herzberg wurde 1895 in Gütersloh geboren. Sie heiratete Karl Mendels und bekam eine Tochter, Erika, und einen Sohn, Paul. Paul ist der Großvater von Bradley und lebt wie sein Enkel in Australien.
1939, nur wenige Jahre bevor alle Juden aus Gütersloh deportiert wurden, gelang es Käthe und Karl Mendels, mit dem achtjährigen Paul und seiner Schwester aus Harsewinkel, wohin sie 1926 von Gütersloh aus gezogen waren, nach Australien zu emigrieren. In Sydney eröffneten sie ein Nuss- und Schokoladengeschäft, das ihnen eine neue Zukunft sicherte und bis heute in Familienhand ist.
Im Alter von 82 Jahren hat Paul Mendels Harsewinkel und die Umgebung zuletzt im Jahr 2009 besucht, um seiner Enkelin Leora (Cousine von Bradley) das Städtchen zu zeigen, Freunde aus der Kindheit zu treffen und Erinnerungen wachzurufen. Auch Bradley will sich auf seiner Spurensuche in Harsewinkel unter anderem die nach seiner Urgroßmutter benannte Käthe-Mendels-Straße ansehen. Für den jungen Australier geht es in Gütersloh als Erstes ins Rathaus, wo ihn Bürgermeister Norbert Morkes und die Leiterin des Stadtarchivs, Julia Kuklik, herzlich in Empfang nehmen. Vom Bürgermeister nach seiner Motivation für die Reise gefragt, antwortet Bradley: „Die handschriftliche Aufzeichnung der Biografie meiner Oma hat mich inspiriert. Und auch die Erzählungen meiner Cousine Leora, die bereits mit meinem Opa hier gewesen ist, haben mich neugierig gemacht. Jetzt will auch ich persönlich erfahren, wo meine Wurzeln liegen.“ Damit Bradley Mendels Gütersloh in guter Erinnerung behält, überreicht Norbert Morkes ihm ein Buch über die Stadt und schreibt auf Wunsch eine Widmung hinein: „Wandel auf den Spuren deiner Vorfahren und du wirst wiederentdecken, was du bisher noch nicht kanntest.“
Dieser Spruch sollte sich auf Bradleys anschließender Tour durch Gütersloh bewahrheiten. Im Stadtarchiv zeigt Julia Kuklik dem Studenten einen Brief seiner Urgroßmutter Käthe, in dem sie über 38 Seiten die Familiengeschichte beschreibt. Der Brief ist ihrem Neffen Kurt Herzberg gewidmet, der 1911 in Gütersloh geboren wurde und den Holocaust überlebte. Als Jehuda Barlev brachte er ein Buch mit dem Titel „Juden und jüdische Gemeinde in Gütersloh 1671-1943“ heraus. Schon dieses Dokument beeindruckt Bradley Mendels sichtlich und die Ausführungen der Stadtarchivarin zu dem Brief noch deutlich mehr: „Es ist erstaunlich, dass jemand Fremdes meine Familiengeschichte so gut kennt und mir so viele neue Informationen liefert.“
Die nächste Station ist der neue jüdische Friedhof in der Böhmerstraße. Unter dem damaligen Gemeindevorsitzenden Josef Herzberg, dem Ururopa von Bradley Mendels, wurde diese Begräbnisstätte im Jahr 1866 - damals noch auf einem freien Feld - angelegt. Auf dem Friedhof begegnet Bradley dann immer wieder der Name Herzberg. Viele seiner Vorfahren ruhen hier, wie beispielsweise der Fleischermeister und Vorsteher der jüdischen Gemeinde Güterslohs, Salomon Herzberg, ein weiterer Urgroßvater und Sohn seines Ururgroßvaters Josef aus erster Ehe.
Im Anschluss geht es für den Australier durch die Gütersloher Innenstadt, vorbei am Theodor-Heuss-Platz, auf dem bis zu den Pogromen 1938 das Haus der jüdischen Familie Meinberg stand. Stolpersteine erinnern dort an die ermordeten Bewohnerinnen. Auch der Gedenkstein für die abgebrannte Synagoge vor dem Evangelisch Stiftischen Gymnasium ist ein weiterer Halt für Bradley und die Stadtarchivarin. Immer wieder stellt der Gast wissbegierig Fragen und nimmt die Informationen von Julia Kuklik dankbar auf.
Am Ende stehen beide vor dem Geburtsort seiner Urgroßmutter Käthe. Beim Anblick huscht ein Lächeln über das Gesicht des 23-Jährigen. Als sie an der Ecke Königstraße/Moltkestraße stehen, wo heute das Geschäft „Vom Fass“ gegenüber der Citywache und VHS untergebracht ist, entfährt ihm: „Das ist so verrückt, dass ich jetzt hier stehe!“ Das Haus wurde 1945 durch Bombenangriffe zerstört. Heute erinnert ein Stolperstein an der Stelle an Klara Herzberg, die Schwägerin seiner Uroma Käthe. Klara wurde 1941 deportiert und starb in Riga. Nur wenige Jahre zuvor war Käthe die Flucht nach Australien gelungen. Bradley Mendels wird plötzlich klar: Überall in Gütersloh finden sich Spuren seiner Vorfahren. „Ich bin sehr froh, dass ich das hier erleben durfte“, sagt er dankbar. „In der Rückschau hätte die Geschichte meiner Familie ganz anders ausgehen können. Ich kann Hebräisch und lebe in Sydney, umgegeben von einer großen jüdischen Gemeinde. Ich werde das alles vermutlich erst später verarbeiten und begreifen. Auf jeden Fall habe ich zuhause viel zu erzählen.“
Bild: (v.l.) Bradley Mendels bekommt als Erinnerung an Gütersloh von Bürgermeister Norbert Morkes ein Buch mit Widmung überreicht. (Foto: Stadt Gütersloh)