Die Verteilung der Löhne ist in Deutschland in den vergangenen Jahren zunehmend ungleicher geworden, besonders seit Mitte der 90er Jahre. Wesentlicher Treiber dieser Entwicklung ist die nachlassende Tarifbindung. Der internationale Handel spielt hingegen nur eine untergeordnete Rolle.
Nichts anderes verschärft die Lohnungleichheit in Deutschland so stark wie die nachlassende Tarifbindung. Dies zeigt eine Studie der Bertelsmann Stiftung in Zusammenarbeit mit dem ifo-Institut München. Während die Löhne seit Mitte der 90er Jahre im oberen Fünftel gestiegen sind, sanken sie im unteren Fünftel. Verantwortlich für diese Entwicklung ist zu mehr als 40 Prozent die stark rückläufige Zahl der tarifgebundenen Unternehmen und Arbeitnehmer. Der verstärkte internationale Handel hingegen ist mit 15 Prozent ein deutlicher geringerer Faktor.
Die Reallöhne der Besserverdienenden sind seit Mitte der 90er Jahre in Deutschland im
oberen Fünftel inflationsbereinigt um 2,5 Prozent gestiegen. Gleichzeitig sank das Lohnniveau in der Gruppe des unteren Fünftels um 2 Prozent. Zwar ist die Lohnungleichheit in Deutschland nach wie vor geringer als im OECD-Durchschnitt. Jedoch stieg sie in den vergangenen beiden Jahrzehnten schneller als etwa in den USA und Großbritannien.
Im selben Zeitraum ging der Anteil der tarifgebundenen Betriebe von 60 auf 35 Prozent zurück. Zugleich sank der Anteil der tarifgebundenen Beschäftigten von 82 auf 62 Prozent. Dieser Rückgang ist der stärkste Treiber für die wachsende Lohnungleichheit. Die Studie beziffert den Anteil der nachlassenden Tarifbindung mit rund 43 Prozent.
Exportorientierung steigert das Lohnniveau in den Belegschaften
Im Vergleich dazu erweist sich der zunehmende internationale Handel als deutlich kleinerer Treiber für die wachsende Lohnungleichheit. Sein Anteil beläuft sich auf etwas mehr als 15 Prozent. So belegt die Studie vor allem Unterschiede im Lohngefüge zwischen national und international tätigen Unternehmen. Bereits Mitte der 90er Jahre zahlten exportorientierte Betriebe durchschnittlich einen 11 Prozent höheren Bruttolohn als Unternehmen mit einem ausschließlich inländischen Markt. Seitdem wuchs dieser Unterschied weiter und lag 2010 bei knapp 15 Prozent.
Bei der Bewertung des Faktors „nachlassende Tarifbindung“ weisen die Autoren der Studie auf die veränderte Zusammensetzung der Arbeitnehmerschaft in Deutschland hin. So sei es durchaus plausibel, dass die Lohnflexibilisierung neue Arbeitsplätze vor allem im Niedriglohnsektor ermöglicht habe. Im Jahr 2010 waren nach Schätzungen des Statistischen Bundesamtes 20,6 Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnsektor tätig, 2006 waren es 18,7 Prozent.
Balance zwischen beschäftigungs- und verteilungspolitischen Zielen notwendig
Für Aart De Geus, den Vorstandsvorsitzenden der Bertelsmann Stiftung, ergibt sich daraus die Notwendigkeit, eine Balance zwischen beschäftigungs- und verteilungspolitischen Zielen zu finden: „Wir brauchen in Deutschland mehr Anstrengungen, um die Einkommensungleichheit zu verringern und dabei die Beschäftigungsverluste möglichst gering zu halten. Zudem benötigen wir auch staatlich flankierende Maßnahmen, die ein »race to the bottom« verhindern. Auch nach Einführung des Mindestlohns besteht hier weiter Handlungsbedarf. Vor allem Langzeitarbeitslosigkeit, mangelnde Aufstiegsmöglichkeiten aus atypischer Beschäftigung und Altersarmut bleiben andernfalls Treiber von wachsender sozialer Ungleichheit.“
Während Globalisierungsgegner häufig die Beschränkung des internationalen Handels fordern, ist dies aus Sicht der Wirtschaftsexperten der Bertelsmann Stiftung keine zweckmäßige Maßnahme zur Erhöhung der Lohngleichheit. Vielmehr eigne sich eine Ausweitung des Außenhandels zur Wiederangleichung der Löhne. So zahlten die am Außenhandel beteiligten Unternehmen nachweislich höhere Löhne. Daher sollten gerade kleine und mittlere Unternehmen, denen es traditionell schwerer fällt, ihre Produkte international zu vermarkten, in ihrer Wettbewerbs- und Exportfähigkeit unterstützt werden.