Die Bullen können mich mal. Wie isses denn bei dir, Mädchen? Gehsse eigentlich noch nache Schule?« Mein Vater Carl hat mir gute Manieren beigebracht. Zu denen gehört das höfliche Antworten auf Fragen. Aber wenn Settermann mir schon morgens seine Schnapsfahne ins Gesicht bläst, muss ich mich zusammen reißen. Natürlich könnte ich antworten: »Nein, Herr Settermann, ich gehe nicht mehr zur Schule, denn ich bin Mitte zwanzig. Ich studiere Medizin und helfe wie immer in den Semesterferien hier aus.«
Das habe ich in den letzten Wochen aber schon fünf Mal täglich getan. Antworten ist zwecklos. Meine fachmännische Diagnose lautet Alkoholabhängigkeitssyndrom, denn Settermann ist ein Delta-Typ-Trinker wie im Lehrbuch. Einer, dem man das Trinken wenig anmerkt, der aber mit erstaunlicher Disziplin seinen Promillespiegel hält. Ist auch nicht schwer. Schließlich haust der alte Zausel im grauen Haus direkt gegenüber. Schön zentral am Berliner Platz, oder, wie Settermann noch immer sagt, am Hertievorplatz.
Statt eine höfliche Antwort zu geben, kassiere ich das Biergeld und starre auf das Haus. Seit die alte Brillberg gestern überfallen wurde, stellt die Polizei halb Gütersloh auf den Kopf. Und besonders gründlich das graue Haus. Die Bewohner müssen sich für weitere Befragungen zur Verfügung halten. Ist mir recht, denn seitdem kommen außer Settermann auch die anderen regelmäßig zum Kiosk. Grechows zum Beispiel. Die leben schon seit dem Krieg hier. Lore kauft zwar kein Bier, dafür aber Rätselhefte. Ratewelt, Knobeldepot und Knack die Nuss. Als Papa letzte Woche am Karpaltunnel operiert wurde und im Elly-Hopp landete, war seine größte Sorge, ich könnte vergessen, Lore die richtigen Zeitschriften zurückzulegen. Dabei weiß ich genau so gut Bescheid wie er. Bin schließlich hier groß geworden. Wenn ich einspringe, kann er sich auf mich verlassen. Jedenfalls ist Lore Grechow eine von denen, die ich mag. Genau wie den glatzköpfigen Maurer Horst, der sich zu jeder Packung Reyno einen Kümmerling gönnt. Und natürlich Tim. Der wohnt erst seit zwei Monaten hier. Studiert Philosophie in Bielefeld – und so sieht er auch aus. Schöne hellblonde lockige Haare, mit einem Goldschimmer. Der könnte sein Studium locker als Model finanzieren. Doch was macht er? Trägt ab und zu Prospekte aus und kifft. Vielleicht nimmt er auch anderes Zeug. Irgendwann werde ich ihm sagen, er soll den Mist lassen und seine Chance nutzen. Wenn ich mich traue.
Tim ist nämlich mein Highlight. Keine Ahnung, warum ich Herzklopfen bekomme, wenn er sich sein Mittagessen bei uns abholt – Carls Kartoffelsalat. Natürlich selbstgemacht, nach altem Familienrezept. Nicht so ein Fertigpamp aus dem Eimer. Jeden Abend bereite ich die Portion für den nächsten Tag vor. Die Kartoffeln müssen über Nacht durchziehen – sonst schmeckt’s nicht.
Wenn Tim den Salat bestellt, schaut er mich immer lange an und ich versuche, in seinen Augen zu lesen, ob er mehr von mir will, oder ob sein Blick mal wieder glasig ist. Leider kommt er nur vorbei, wenn er bei Kasse ist. Das letzte Mal am Montag. Dabei würde ich für ihn sofort anschreiben. Allein schon, damit er sich jeden Tag eine Portion abholt.
»Die Bullen sind doch zu bekloppt«, mault Settermann und schlurft wie immer ohne Verabschiedung quer über den Platz. Jetzt kommt ein Polizist aus dem Hauseingang, spricht ihn an. Settermann spuckt ihm tatsächlich auf die Füße, und der Arme wischt sich den Schuh ab. Wenn ich Polizistin wär. Wo bleibt Tim? Ich werde ihm schon mal ein Schälchen Salat abfüllen. Ob ich ihm eine Botschaft hineinlegen soll? Eine muss ja den Anfang machen.
»Hallo, schöne Frau«, sagt der Polizist und stützt sich mit einem Plastikbeutel in der Hand auf die Theke.
»Was darf’s sein?«, frage ich hektisch. Hauptsache, der stellt keine Fragen. Weiß eh nicht, was ich dazu sagen soll. Dass die Brillberg eine keifende Ziege ist und die anderen Mieter schikaniert? Besonders Tim und Settermann. Ich empfehle ihm Carls Kartoffelsalat – mit Bockwurst.
»Unfassbar lecker«, lobt der Polizist und setzt die Mütze ab. Der hat gute Manieren, denke ich.
»Ist Ihnen aufgefallen, dass einer der Hausbewohner sich sonderbar verhält?«
»In Gütersloh verhalten sich doch die meisten sonderbar«, antworte ich. Dann schicke ich noch ein interessiertes »Wieso?« hinterher.
»Wir gehen von einem gezielten Raub aus und glauben, dass der Täter ein Hausbewohner ist. Frau Brillberg ist alleinstehend, und das muss jemand gewusst haben. Jetzt liegt sie im Krankenhaus. Den Täter kann sie nicht beschreiben, weil er eine Maske trug.«
»Könnte doch auch der Schornsteinfeger oder ein Staubsaugervertreter gewesen sein«, hake ich nach und denke unwillkürlich an den Versicherungsmann mit der Dauerwelle. Der kommt jeden Mittag und baggert alle Frauen an, die er sieht. Und für so einen stell ich mich abends an den Herd und bereite den Kartoffelsalat vor. Ich wüsst schon, was ich ihm Feines unterrühren könnte, aber Papa meint, ich solle mir meine Medizinkenntnisse fürs Physikum aufsparen.
»Der Täter hat was verloren«, deutet der Polizist an und schabt mit der Gabel den Teller sauber. Als Frau Grechow sich ihr Knobeldepot abholt, drängt sie sich an dem Polizisten vorbei. Der schnappt sich seine Dienstmütze, nickt höflich und geht. Frau Grechow ist neugierig, doch ich bin nicht in Tratschlaune. Ich muss das Plastiktütchen, das der Polizist im Gewusel vergessen hat, in Gewahrsam nehmen. Sieht aus wie ein Frischhaltebeutel mit Aromaverschluss. In so was frieren wir Zwiebeln ein. Fast wie im Tatort, denke ich und schaue mir das Beutelchen von allen Seiten an. Es ist durchsichtig und drinnen liegt nur ein Kamm, mehr nicht. Oder doch? Ich sehe genauer hin. In dem Kamm stecken ein paar Haare. Feine, hellblonde, lockige – mit goldenem Schimmer.
Mir wird schwindelig, und ich halte mich am Tresen fest. Warum muss ich auch so neugierig sein? Das Tütchen geht mich doch nichts an. Wo ist Tim? Mir zittern die Knie und ich schenke mir einen Schröderschen ein. Der beruhigt. Ich brauche doch einen klaren Gedanken. Was, wenn ich dem Polizisten sage, dass ich keinen Plastikbeutel gefunden habe? Der wäre mir doch aufgefallen.
»Nochn Herforder und ne Portion Kartoffelsalat!« Settermann erschreckt mich fast zu Tode. Ist der schon wieder da. Ich stelle ihm die Flasche und den Teller vor die rote Nase und starre an ihm vorbei auf das Haus. Wie soll ich mich konzentrieren wenn Settermann so laut schluckt und rülpst?
»Die Bullen gehen mir – urg – auf die Nerven«, mault er.
»Ich sach dir eins, Mädchen. Wenn du mitter Schule fettich bist, dann werd bloß keine von denen. Und euer Kartoffelsalat schmeckt wie alte Schmierseife.« Settermann beugt sich vor, um in meinen Ausschnitt zu glotzen. Jetzt wird mir auch noch übel. Liegt nicht am Schnaps. Seine schuppige Kopfhaut glitzert direkt vor meinem Gesicht. Er rülpst noch einmal. Und ich greife zu. Blitzschnell. Mit beiden Händen mitten rein in den fettigen Schopf. Settermann jault auf. Meine Finger verzahnen sich in den klebrigen Strähnen. So fest bis die Knöchel meiner Gelenke unter der gespannten Haut weiß schimmern. Settermann stützt sich ab und reißt sich mit einem Ruck aus meiner Umklammerung.
»Was soll das?«, schnauzt er mich an und hält sich den öligen Kopf. Ich lächle – und habe, was ich will. Wenn der hungrige Polizist morgen wiederkommt, serviere ich ihm eine doppelte Portion Carls Kartoffelsalat und dazu den Beutel mit Aromaverschluss. Die neuen Haarsträhnen im Kamm glänzen fast genauso wie die alten, sie sind nur ein bisschen grauer. Und Tim lege ich eine Einladung zum Abendessen ins Schälchen. Eine muss ja den Anfang machen.