Die Wahlbeteiligung erreicht historische Tiefstände. Die Bertelsmann Stiftung hat mehrfach nachgewiesen, dass viele Nichtwähler in prekären Stadtvierteln wohnen. Dennoch bleibt ihr soziales Profil umstritten. Eine neue Untersuchung ordnet die Nichtwähler nun erstmals gesellschaftlichen Milieus zu.
Der typische Nichtwähler kommt aus den sozial schwächeren Milieus. Das belegt eine Analyse der vergangenen Bundestagswahl, die Nichtwähler nicht wie bislang nur Stadtteilen, sondern gesellschaftlichen Milieus zuordnet. Die Bertelsmann Stiftung wertete dafür gemeinsam mit dem Meinungsforschungsinstitut infratest dimap die 640 repräsentativen Stimmbezirke der ARD-Wahlumfrage aus. Demnach war die Wahlbeteiligung im September 2013 in sozial privilegierten Schichten um bis zu 40 Prozentpunkte höher als die Wahlbeteiligung in sozial schwachen Milieus.
Die neuen Berechnungen bestätigen die Resultate früherer Studien der Bertelsmann Stiftung: Je prekärer das soziale Umfeld eines Stadtviertels, desto weniger Menschen gehen zur Wahl. Die neue Analyse erlaubt nun erstmals auch Rückschlüsse auf das soziale Profil der Nicht-wähler in Deutschland. „Vor allem sozial benachteiligte Menschen aus den Milieus der Unterschicht und der unteren Mittelschicht verzichten auf ihr Wahlrecht“, sagte Robert Vehrkamp, Demokratie-Experte der Bertelsmann Stiftung.
Die Wahlforscher bedienten sich für Ihre Analyse der sogenannten Sinus-Milieus®, die die Bevölkerung in zehn gesellschaftliche Gruppen unterteilen – je nach sozialem Status sowie Werten und Einstellungen. Die höchste Wahlbeteiligung wies bei der Bundestagswahl 2013 das liberal-intellektuelle Milieu auf: 88 Prozent der Wahlberechtigten aus diesem sozial starken Milieu gaben ihre Stimme ab. Überrepräsentiert sind neben den Liberal-Intellektuellen auch das konservativ-etablierte Milieu (Wahlbeteiligung 83 Prozent), das Milieu der Performer (81,3 Prozent) und das sozialökologische Milieu (80,2 Prozent).
In sozial benachteiligten Schichten hingegen war die Bereitschaft zur Stimmabgabe grundsätzlich niedriger. Die geringste Wahlbeteiligung (47,7 Prozent) gab es im Milieu der sogenannten Hedonisten, einer konsumfreudigen Gruppe der Unter- und Mittelschicht. Auch im prekären Milieu, das sich durch Zukunftsängste und geringe Aufstiegschancen auszeichnet, war die Wahlbeteiligung mit 58,9 Prozent gering. Mehr als jeder dritte Nichtwähler (38 Prozent) kommt aus diesen sozial schwächeren Milieus. Demgegenüber stellen sie aber nur 22 Prozent aller Wahlbeteiligten. Ihre Stimmen sind im Wahlergebnis daher deutlich unterrepräsentiert. „Deutschland ist zu einer sozial gespaltenen Demokratie geworden. Zwischen Ober- und Unterschicht klafft eine deutliche Lücke in der Wahlbeteiligung“, sagte Vehrkamp.
Die soziale Lage eines Milieus entscheidet jedoch nicht allein über die Höhe der Wahlbeteiligung. Auch die zweite Dimension der Milieuzugehörigkeit, Einstellungen, Werte und Verhaltensweisen, beeinflusst die Wahlbereitschaft. Das zeigt das Beispiel des hedonistischen Milieus sehr deutlich. In diesem wählerschwächsten Milieu verstärken sich die sozial prekäre Lage und die Werte und Einstellungen gegenseitig: „Soziale Probleme verbinden sich mit einer ausgeprägten Konsumneigung, Spaßorientierung und Distanz gegenüber Regeln der Gesellschaft zu einem typischen Nichtwähler-Klima“, sagte Vehrkamp.
Der Einfluss von Werten und Einstellungen zieht sich durch alle Schichten: Je stärker ein Milieu sich der Individualisierung, Selbstverwirklichung und experimentellen Neuorientierung verschreibt, desto geringer ist die Wahlbeteiligung. „Individualisierung und Wertewandel führen in allen sozialen Schichten zu einer Schwächung der Wahlnorm“, sagte Vehrkamp.