Vor 70 Jahren in Gütersloh/Rudolf Herrmann erinnert sich
Rudolf Herrmann war 14 Jahre alt, als Gütersloh von den Bomben getroffen wurde. Vor 70 Jahren kam der Bombenkrieg auch nach Gütersloh. So waren am 26. November 1944 (Totensonntag) nach amerikanischen Unterlagen unter anderem mehrere Verkehrsanlagen in Ostwestfalen das Ziel von 1100 Bombern, die sich am Morgen von England auf den Weg machten. Bis zu diesem Zeitpunkt war die Stadt von schweren Bombenangriffen verschont geblieben. Nach der Invasion der Alliierten am 6. Juni 1944 in der Normandie wurden die Luftangriffe gegen Deutschland immer heftiger. Der heute 84jährige Herrmann hat sich nicht nur auf seine eigenen Erinnerungen als Zeitzeuge verlassen, sondern auch im Stadtarchiv recherchiert, was dieser Bombenangriff für Gütersloh bedeutete.
Bei diesem Angriff wurden nach einem Bericht des Bürgermeisters Josef Bauer von 37 B17-Bombern (Fliegende Festung genannt) 212 Zehnzentnerbomben auf Gütersloh abgeworfen. Davon waren sieben Blindgänger. 80 Personen wurden dabei getötet und 52 verletzt. Im Turm der Apostelkirche, der wegen seiner dicken Mauern als Luftschutzraum ausgewiesen war, kamen allein 19 Personen durch das einstürzende Deckengewölbe zu Tode. Das Kirchenschiff hatte durch eine Zehnzentner-Bombe einen Volltreffer erhalten und war total zerstört. Der Turm blieb stehen und ragte wie ein Mahnmal über die Trümmer des Kirchenschiffs und die schwer beschädigten Fachwerkhäuser am Alten Kirchplatz hinweg. Von den 80 getöteten Personen haben sich 47 innerhalb und 33 außerhalb von Luftschutzräumen aufgehalten.
Mit 80 Toten war der 26. November 1944 der Tag, an dem es in Gütersloh die meisten Toten bei Bombenangriffen gab. Danach haben viele Gütersloher bei Fliegeralarm die Stadt in Richtung Außenbezirke und Nachbardörfer verlassen, sonst wäre die Zahl der Toten bis Ostern 1945, als die Amerikaner Gütersloh kampflos besetzten, noch höher gewesen.
Der Angriff am 26. 11. 1944 hatte als Ziel die Bahnanlagen in Gütersloh. Von den 212 Spreng-bomben haben nur sechs die Reichsbahn und zwei die Teutoburger Wald-Eisenbahn getroffen. Der Fahrbetrieb bei der Reichsbahn konnte schon am gleichen Tag um 15 Uhr wieder aufgenommen werden. Zwei Bombenteppiche sind auf Gütersloh gefallen, je einer links und rechts der Eisenbahn. Besonders betroffen waren die Blessenstätte und die Eickhoffstraße; auf der anderen Bahnseite das Wohngebiet südlich der Miele-Werke.
Aus Sicht der Amerikaner wurde nach Auswertung der Luftaufnahmen der Angriff als „wahrscheinlich zufriedenstellend“ bewertet (aus „Der Zusammenbruch Deutschlands eine Transportfrage?“ von Friedhelm Golücke). Aber wieviel Leid haben die Bomben ausgelöst, die 132 Personen getötet und verwundet haben?
In einer bewegenden Trauerfeier auf dem Ehrenfriedhof an der Straße Unter den Ulmen wurde unter reger Anteilnahme der Bevölkerung am 1. Dezember 1944 Abschied von den Bombentoten genommen. An diesem Totensonntag hat Gütersloh erstmalig den Schrecken und die Grausamkeit des Bombenkrieges kennengelernt.
Was Rudolf Herrmann vor 70 Jahren erlebt hat
„Wir hatten gehofft, dass die Kriegsgegner an diesem Tag die Totenruhe respektieren würden. Doch kurz vor 11 Uhr gab es Voralarm. Das hieß, Bomberverbände sind zu erwarten. Wir nahmen unsere wichtigsten Sachen und brachten sie in den Luftschutzkeller in der Heinrichstraße 8 (heute Carl-Miele-Straße 80), in unmittelbarer Nähe der Miele-Werke. Da nichts von Flugzeugen zu hören war, begaben wir uns an diesem sonnigen Vormittag nach draußen. Doch kurz vor 12 Uhr gab es Vollalarm. Jetzt hofften wir, dass Gütersloh, wie so oft bei Vollalarm, auch diesmal von einem Angriff verschont blieb. Plötzlich hörten wir von weitem das dumpfe, monotone, durchdringende und Angst verbreitende Geräusch eines Bomberverbandes. Sofort gingen wir in den Luftschutzkeller. Doch kurz darauf kam ein älterer Mitbewohner in den Keller und sagte, dass Angriffszeichen gesetzt sind. Das waren von den Leitflugzeugen abgeworfene Rauchfahnen, die das Ziel markieren sollten und gleichzeitig Befehl zum Abwerfen von Bomben war. Nach kurzer Zeit hörten wir auch schon das Pfeifen und Explodieren der ersten Sprengbomben. Zuerst etwas weiter weg, dann aber immer heftiger und näher kommend.
Erschütterungen, Explosionen und das Dröhnen der feindlichen Flugzeuge versetzten uns in Angst und Schrecken. Wir setzten uns ganz nah zu unserer Mutter und suchten ihren Kontakt und Schutz. Eine Explosion war besonders stark. Man glaubte, das Haus hätte sich angehoben. Der Einschlag war ganz in der Nähe schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite. Als die Bombeneinschläge aufhörten und kein Flugzeug mehr zu hören war, verließen wir den Keller und waren froh, dass wir unverletzt waren und das Haus noch stand. Doch alle Fensterscheiben waren zerbrochen und die Türen waren herausgerissen oder schlossen nicht mehr. Viele Dachziegel lagen zerbrochen auf dem Hof und im Vorgarten. Aber was war gegenüber passiert?
Ein Einfamilienhaus hatte einen Volltreffer bekommen und war total zerstört. Das Nachbarhaus war durch die 500-Kilo-Bombe halb zerstört. In dem total zerstörten Haus war eine Familie mit zwei Kindern verschüttet. Die Eltern gaben noch Lebenszeichen ab. Als sie der Rettungstrupp geborgen hatte, waren Vater und Mutter tot, aber beide Kinder lebten.
Da unsere Wohnung nicht mehr bewohnbar war, zog meine Mutter mit mir und meinen drei Brüdern zu unseren Großeltern in die Straße „Zum stillen Frieden“. Mein Vater war als Lokführer in der Ukraine tätig. Er bekam ein paar Tage Urlaub und machte unsere Wohnung wieder bewohnbar. Im Garten unserer Großeltern habe ich mit meinem Opa zusammen einen Erdbunker gebaut, in dem wir alle übrigen Luftangriffe bis Ostern 1945 erlebt haben.“